Bruderkrieg
Jephtas Sieg über die Philister
Während im Buch Josua die Segnungen Israels vorgestellt werden, das Land, das Israel hätte vollständig einnehmen sollen, so wird im Buch der Richter aufgezeigt, welches der wahre Zustand Israels war: Israel blieb hinter den Segnungen zurück, nahm nicht das gesamte ihm zustehende Land ein, liess die Feinde im Land wohnen. Charakteristisch für das Buch der Richter ist dabei der Abfall des Volkes vom Herrn, wie er in Ri 2, 11–19 geschildert wird:
- Israel wandte sich fremden Götzen zu;
- der Herr bedrückte Israel durch die Hand ihrer Feinde;
- Israel kehrte zum Herrn zurück;
- der Herr erweckte einen Richter, der Israel befreite;
- der Richter starb;
- Israel wandte sich wieder fremden Götzen zu.
Einer dieser Richter, der Israel aus der Hand seiner Feinde befreite, war Jephta. Zwar wurde auch er vom Herrn ausersehen, Israel aus der Hand seiner Feinde – damals bedrückten hauptsächlich die Ammoniter die Israeliten – zu befreien, denn es heisst, dass der Geist des Herrn über Jephta kam und ihn gegen die Ammoniter ausziehen liess (Ri 11, 29). Doch anders als bei anderen Richtern war die Wahl Jephtas keine rein göttliche: 5 Und es geschah, als die Kinder Ammon mit Israel kämpften, da gingen die Ältesten von Gilead hin, um Jephta aus dem Land Tob zu holen. 6 Und sie sprachen zu Jephta: Komm und sei unser Anführer, dass wir gegen die Kinder Ammon kämpfen!
Ri 11, 5. 6 Bereits zuvor hatten die Obersten von Gilead beschlossen, dass der Mann, der anfange, gegen die Kinder Ammon zu kämpfen, allen Bewohnern Gileads zum Haupt sein solle (Ri 10, 18). Darin aber versündigten sich die Gileaditer am Herrn. Sie sonderten sich damit nämlich in unzulässiger Weise vom Rest Israels ab, richteten ihren Blick nicht auf Israel, die Gesamtheit des Volkes Gottes, sondern auf Gilead, einen nach menschlichen Massstäben festgelegten Teil des Volkes Gottes, gleichsam auf eine Sekte, eine Abspaltung. Wer ist denn Gilead? Gilead steht nur deshalb in besonderer Beziehung zum Herrn, weil es Teil Seines Volkes – Er bestimmt, wer dazu gehört, und wer nicht! – ist, und nicht, weil es sich in irgendeiner Weise besonders auszeichnen würde.
Gerade in diesem Punkt hat auch die Kirche Gottes, die Gesamtheit aller Gläubigen, gefehlt: Heute spricht niemand mehr von «Israel» (der Kirche), sondern vielmehr richten alle ihren Blick auf «Gilead» (ihre Sekte). Es existiert eine unüberschaubare Anzahl von Abspaltungen mit je eigenen Namen («Denomination»; bedeutet: «Benennung»), und die Christen definieren sich über ihre Zugehörigkeit zur jeweiligen Abspaltung – weit mehr als über ihre Zugehörigkeit zur wahren Kirche Gottes! Kommt hinzu, dass auch beinahe jede dieser Abspaltungen ein Haupt über sich haben will; sie verwerfen den Herrn als ihren König, um – wie die Welt auch – einen menschlichen Leiter und Führer (Pfarrer, Pastor, Prediger) über sich zu haben (vgl. 1. Sam 8, 4–7). So weit Israel, wie es im Buch der Richter vorgestellt wird, von den Segnungen nach dem Willen Gottes, wie sie im Buch Josua vorgestellt werden – damals kämpfte Israel übrigens stets in völliger Einheit; selbst die zweieinhalb Stämme, die ihr Erbteil nicht in Besitz nehmen wollten, mussten mitkämpfen! –, entfernt war, so weit ist auch heute die Kirche vom Weg Gottes abgekommen. Es ist vonnöten, dies anzuerkennen und Busse darüber zu tun! Dabei spielt es im Übrigen keine Rolle, was die Mehrheit der Christen tut; jeder ist für sich selbst verantwortlich, wie er vor dem Herrn wandelt, auch was die Gemeinschaft mit anderen Christen anbelangt.
Gilead hatte sich also Jephta, einen tapferen Held
Ri 11, 1, zum Haupt ernannt. Dieser zog in der Folge, wie erwähnt, nicht ohne die Mitwirkung des Herrn, gegen die Ammoniter und schlug sie (Ri 11, 33). Obwohl sich also Gilead in unzulässiger Weise vom Rest des Volkes Gottes abgespalten hatte, durfte es in der Sache des Herrn einen grossen Sieg verzeichnen. Auch dies ist ein wichtiger Punkt: Nur weil der Herr Seine Gnade gegenüber einer bestimmten Person oder einer bestimmten Gruppe aus dem Volk Gottes erweist, bedeutet dies noch lange nicht, dass dort alles in bester Ordnung ist. Ja, man könnte wohl auch sagen, dass wenn die Gnade Gottes davon abhängig wäre, dass alles in bester Ordnung ist, sie nie gesehen würde.
Ephraims Forderung
Kaum hatte Gilead nun aber obsiegt, trat Ephraim auf den Platz:
1 Und die Männer von Ephraim wurden zusammengerufen und zogen hinüber nach Norden, und sie sprachen zu Jephta: Warum bist du durchgezogen, um gegen die Kinder Ammon zu kämpfen, und hast uns nicht gerufen, dass wird mit dir gingen? Wir werden dein Haus über dir mit Feuer verbrennen! Ri 12, 1
Einige Generationen vor Jephta hatte der Richter Gideon einen grossen Sieg über Midian errungen. Bereits damals waren die Ephraimiter in genau dieser Weise an ihn herangetreten, und zwar allein deshalb, weil sie offensichtlich der Meinung waren, sie wären bei der Beuteverteilung zu kurz gekommen (Ri 8, 1–3). Es fehlte Ephraim sowohl im Kampf gegen Midian wie auch im Kampf gegen Ammon an der nötigen geistlichen Energie, um den Kampf des Herrn auf Sein Geheiss hin zu führen; bezeichnend hierfür ist, dass sie sowohl Gideon als auch Jephta fragten: Weshalb hast du uns nicht gerufen?
Andererseits taten sich die Ephraimiter aber immer dann hervor, wenn es um die Inbesitznahme der Segnungen Gottes ging; kaum gab es Beute zu verteilen, traten sie in die erste Reihe und machten gar jenen, die den Kampf des Herrn geführt hatten, noch Vorwürfe, aus Angst, zu kurz zu kommen. Die Ephraimiter waren nichts anderes als auf ihren eigenen Vorteil bedachte Mitläufer. Sie handelten mehr im Fleische als im Geiste, zumindest was diese beiden Begebenheiten anbelangt.
Der Bruderkrieg
Es wäre zwar noch schlimmer gewesen, wenn sich Ephraim überhaupt nicht für die Segnungen Gottes interessiert hätte – so wie die anderen Stämme. Doch diese Segnungen auf fleischliche Weise erreichen zu wollen, ist falsch. Sofort offenbarten sich denn auch die Früchte des Fleisches: Feindschaft, Streit, Eifersucht, Zorn, Zank, Zwietracht, Sekten, 21 Neid
Gal 5, 20. 21. Gideon hatte es seinerzeit verstanden, diese fleischlichen Regungen Ephraims im Zaume zu halten; er hatte dem Toren nicht nach seiner Narrheit
Spr 26, 4 geantwortet, sondern achtete in Demut den andern höher
Phil 2, 3 als sich selbst. Nicht in Neid oder Eifersucht, sondern in Demut antwortete er Ephraim: Ist nicht die Nachlese Ephraims besser als die Weinlese Abiesers?
Ri 8, 2. Mit diesem Wort vermochte er den Zorn Ephraims zu stillen.
Wie Gideon sollten auch wir fleischlichen Regungen – unseres eigenen Ichs oder desjenigen eines Bruders oder einer Schwester – in Weisheit und Demut begegnen. Wir sollen dann nicht auf unsere eigenen Ansprüche bestehen, uns selbst nicht für etwas achten, wo wir doch nichts sind (Gal 6, 3). Dafür bedürfen wir jedoch der notwendigen Demut. Es lohnt sich, den Herrn hierum zu bitten, denn, wie die Geschichte Gideons zeigt, können wir so einen unnötigen «Bruderkrieg» verhindern.
Jephta antwortete Ephraim nicht, wie Gideon, nach dem Geiste, sondern nach dem Fleische; auf die Vorwürfe Ephraims antwortete er, er hätte sein Leben eingesetzt, um Israel von den Ammonitern zu befreien; sein Hilferuf an Ephraim, so ergänzt er vorwurfsvoll, sei nicht erhört worden, und Ephraim sei ihm nicht zur Hilfe gekommen (Ri 12, 2. 3). Jephta bestand auf seine Ansprüche, hielt sich «für etwas» – man muss zu seinen Gunsten anführen, dass dies wohl nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen war, dass Gilead ihn zu seinem Haupt ernannt hatte – und erwiderte Böses mit Bösem, Scheltwort mit Scheltwort (1. Petr 3, 9). Die Folgen dieser harten Antwort waren verheerend: 42 000 Ephraimiter wurden insgesamt von ihren Brüdern, den Gileaditern, erschlagen (Ri 12, 6).
Dabei zeigte sich in besonderer Weise, dass auch Gilead fleischlich, nämlich sektiererisch, handelte: Es besetzte die Furten des Jordan und erschlug in der Folge von denen, die den Jordan überqueren wollten, jeden, der es nicht fertig brachte, «richtig zu sprechen», d. h. Sibboleth
anstatt Schibboleth
sagte (Ri 12, 5. 6). Hatte der Herr dies geboten? Hatte Er die Grenze zwischen denen, die «drinnen»waren, und denen, die «draussen» bleiben mussten, so festgelegt? Spielte es für die Zugehörigkeit zum Volk Gottes eine Rolle, wie man Schibboleth
aussprach? Klar und deutlich zeigt sich hier nochmals die Sünde Gileads mit all ihren schrecklichen Auswirkungen: Gilead hatte sich als Sekte von Israel abgespalten, ein Haupt über sich gesetzt und selbst festgelegt, wer zur Sekte gehörte und wer nicht. Es steht niemandem von uns zu zu bestimmen, wer zum Volk Gottes gehört und wer nicht! Diesbezüglich haben wir überhaupt nichts zu bestimmen!
Gilead hatte sich bereits zuvor in unzulässiger Weise vom Rest des Volkes Gottes abgesondert und sich, was ihm nicht zustand, ein menschliches Haupt ernannt; Ephraim hatte seinerseits zuvor gezeigt, dass es sein Fleisch nicht im Tode hielt. Fleisch traf auf Fleisch, und das Volk Gottes erlitt einen empfindlichen Verlust. Möge diese Geschichte uns allen eine ernste Warnung sein, nicht nach dem Fleisch zu handeln! Lasst uns nicht neidisch und eifersüchtig sein, wenn der Herr einen Bruder oder eine Schwester segnet, sondern uns mit ihm oder ihr freuen! Lasst uns nicht eine unzulässige Spaltung im Volk Gottes vornehmen! Lasst uns dem Fleische nicht nach dem Fleische antworten!
1 Wenn es nun irgendeine Ermunterung gibt in Christus, wenn irgendeinen Trost der Liebe, wenn irgendeine Gemeinschaft des Geistes, wenn irgend innerliche Gefühle und Erbarmungen, 2 so erfüllt meine Freude, dass ihr gleich gesinnt seid, dieselbe Liebe habend, einmütig, eines Sinnes, 3 nichts aus Streitsucht oder eitlem Ruhm tuend, sondern in Demut einer den andern höher achtend als sich selbst; 4 ein Jeder nicht auf das Seine sehend, sondern ein jeder auch auf das des andern. Denn diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus war. Phil 2, 1–4