Jesus Christus ist der Herr! Phil 2, 11

Gesetz und Gnade

Das Verhältnis zwischen dem Gesetz gemäss dem Alten Testament und dem Zeitalter der Gnade, das mit dem Kommen des Herrn Jesus Christus begonnen hat, ist schwierig zu verstehen. Das Gesetz ist zu einem Ende gekommen (vgl. Lk 16, 16), aber doch stellt Gott hohe Anforderungen an den moralischen Zustand der Menschen (vgl. die Bergpredigt in Mt 5–7). Mehrfach steht in der Bibel geschrieben, dass nicht ein Strichlein vom Gesetz vergehen wird (z. B. Lk 16, 17). Was gilt denn nun? In welchem Verhältnis stehen die Gnade und das Gesetz? Wie haben sich Christen gegenüber dem Gesetz zu verhalten? Werden die Nichtchristen anhand des Gesetzes gerichtet? Eine Begebenheit aus dem Leben des Herrn Jesus beantwortet diese Fragen auf anschauliche Weise:

1 Jesus aber ging an den Ölberg. 2 Frühmorgens aber kam er wieder in den Tempel, und alles Volk kam zu ihm; und er setzte sich und lehrte sie. 3 Die Schriftgelehrten und die Pharisäer aber bringen eine Frau [zu ihm], im Ehebruch ergriffen, und stellen sie in die Mitte 4 und sagen zu ihm: Lehrer, diese Frau ist im Ehebruch, bei der Tat selbst, ergriffen worden. 5 In dem Gesetz aber hat uns Mose geboten, solche zu steinigen; du nun, was sagst du? 6 Dies aber sagten sie, um ihn zu versuchen, damit sie etwas hätten, um ihn anzuklagen. Jesus aber bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7 Als sie aber fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe zuerst einen Stein auf sie. 8 Und wieder bückte er sich nieder und schrieb auf die Erde. 9 Als sie aber dies hörten, gingen sie einer nach dem anderen hinaus, anfangend von den Ältesten [bis zu den Letzten]; und [Jesus] wurde allein gelassen mit der Frau in der Mitte. 10 Als Jesus sich aber aufgerichtet hatte [und ausser der Frau niemand sah], sprach er zu ihr: Frau, wo sind sie, [deine Verkläger]? Hat niemand dich verurteilt? 11 Sie aber sprach: Niemand, Herr. Jesus aber sprach [zu ihr]: Auch ich verurteile dich nicht; geh hin und sündige nicht mehr! Joh 8, 1–11

Gott, der Herr, hasst Scheidung und Ehebruch. Im Gesetz für Israel, das heilig und gerecht und gut Röm 7, 12 ist, hatte Er geboten, dass jeder, der die Ehe bricht, des Todes ist und gesteinigt werden muss. Die Pharisäer konfrontierten den Herrn Jesus nun mit dieser Rechtsforderung, um Ihn herauszufordern. Wahrscheinlich nahmen sie an, dass der Wohltäter aller (selbst der Hurer und Zöllner) die Frau verschonen würde. Damit hätte Er aber das Gesetz gebrochen, das voll und ganz auf der Seite der Pharisäer war. Immerhin hatten sie die Frau auf frischer Tat ertappt. Die gesetzliche Strafe war bekannt.

Der Herr Jesus hat das Gesetz mit keinem Wort aufgehoben oder ausgesetzt. Damit hätte Er sich auch in Widerspruch zum Vater gestellt, was undenkbar ist. Er hat die Tat der Frau auch mit keinem Wort beschönigt, sondern vielmehr gesagt, sie solle hinfort nicht mehr sündigen, was nichts anderes bedeutet, als dass Er ihre Tat als Sünde qualifiziert hat. Dies ist der erste Punkt, der jedem Christen voll und ganz bekannt sein sollte: Gott hat Seine Ansichten nie geändert und wird sie nie ändern. Seine Moralforderungen bleiben immer dieselben. Das Gesetz fordert bloss einen niedrigeren Standard, wie die Bergpredigt zeigt. Immer hat der Herr absolute Reinheit in Taten, Worten und Gedanken gefordert und immer wird Er dies fordern. Heute, im Zeitalter der Gnade, ist Ehebruch ebenso wenig legitim wie im Zeitalter des Gesetzes oder davor oder danach. Von Christen im Besonderen wird erwartet: Sündige nicht mehr! Joh 8, 11. Einst waren wir schuldbeladen und sündbeschmutzt. Dann hat uns der Herr in Seinem Blut reingewaschen. Jetzt ist es nicht egal, wie wir leben, sondern wir sollen uns hinfort nicht mehr beschmutzen. Die Rechtsforderungen Gottes bleiben für alle Ewigkeiten bestehen, ohne Wenn und Aber. Sein moralischer Standard ändert sich nicht, sondern bleibt für immer derselbe. Jeder Christ sei hiermit gewarnt: 19 Wer irgend nun eins dieser geringsten Gebote auflöst und die Menschen so lehrt, wird der Geringste heissen im Reich der Himmel; wer irgend aber sie tut und lehrt, dieser wird gross heissen im Reich der Himmel Mt 5, 19. Das Gesetz ist nie aufgehoben worden und wird nie aufgehoben werden. Sehr eindrücklich zeigt dies der Abschnitt, wo die Rede davon ist, dass das Gesetz mit dem Auftreten Johannes’ des Täufers ein Ende gefunden hat:

16 Das Gesetz und die Propheten waren bis auf Johannes; von da an wird das Evangelium des Reiches Gottes verkündigt, und jeder dringt mit Gewalt hinein. 17 Es ist aber leichter, dass der Himmel und die Erde vergehen, als dass ein Strichlein des Gesetzes wegfalle. 18 Jeder, der seine Frau entlässt und eine andere heiratet, begeht Ehebruch; und wer eine von ihrem Mann Entlassene heiratet, begeht Ehebruch. Lk 16, 16–18

Die Erde und der Himmel können nicht vergehen. Dies scheint uns unmöglich. Und doch ist dies wahrscheinlicher als dass auch nur ein Strichlein vom Gesetz wegfällt. Dies hat der Herr Jesus sofort nach Seiner Erklärung, dass das Gesetz ein Ende gefunden habe, bestätigt. Unmittelbar darauf hat Er gezeigt, dass der eigentliche Standard Gottes noch höher ist: Ein Geschiedener, der sich wieder verheiratet, begeht Ehebruch; wer eine Geschiedene heiratet, begeht ebenso Ehebruch. Ein unter dem Gesetz legitimes Verhalten ist hier vom Herrn Jesus also ganz klar als Sünde qualifiziert worden. Wehe den Christen, die meinen, mit dem Ende des Gesetzes seien die Rechtsforderungen Gottes weggefallen!

Im Fall der Ehebrecherin hat der Herr Jesus allerdings – nichts Neues, aber – etwas bis dahin wenig Bekanntes eingeführt: Er hat von den Vollstreckern des Urteils einen bestimmten moralischen Stand verlangt. Nur wer ohne Sünde gewesen wäre, hätte den ersten Stein werfen dürfen bzw. sollen. Die Reaktion der Pharisäer besagt nun alles: Kein Mensch ist gerecht, niemand ist ohne Sünde (vgl. Röm 3), niemand ist je in den Genuss der Verheissung gekommen: Der Mensch, der diese Dinge tut, wird durch sie leben Röm 10, 5. Das Gesetz hat seinen Zweck gar nie erfüllen können, weil es nie jemanden gegeben hat, der es hätte halten können – obwohl es sich dabei bloss um einen herabgesetzten Standard der Moral Gottes gehandelt hat. Niemals hat ein Mensch durch das Halten des Gesetzes leben können. Alle, die unter dem Gesetz gewesen waren, sind tot, die Frommen ebenso wie die Gottlosen. Damit hat der Herr mithilfe des Gesetzes bewiesen, dass der Mensch unfähig ist, gemäss diesem Gesetz zu leben.

Wie könnte nun Gott Sein heiliges, gerechtes und gutes Gebot in den Händen der unfähigen Menschen belassen? Deren Unfähigkeit und Grausamkeit würde doch auch ein schlechtes Licht auf Ihn selbst werfen! Wenn ein Richter einen Straftäter gerechterweise verurteilt, die Strafe aber von einem besonders ruchlosen Sadisten vollstrecken lassen würde, stünde doch auch er selbst schlecht da. Das zeigt gerade das Beispiel der Pharisäer: Ihnen ging es ja nicht einmal darum, die Reinheit des Volkes Gottes zu verteidigen! Nein, das Volk war ihnen völlig gleichgültig, hatten sie doch gerade noch kurz davor gesagt: 49 Diese Volksmenge aber, die das Gesetz nicht kennt, sie ist verflucht! Joh 7, 49. Sie benutzten die Frau doch nur, um den Herrn zu versuchen! Wo war denn übrigens der Mann, mit dem sie die Ehe gebrochen hatte? Weshalb hatten sie diesen nicht vor den Herrn gebracht? Handelte es sich gar um einen Pharisäer, den sie zu decken versuchten? So ist es immer, wenn sündige Menschen andere sündige Menschen verurteilen: Das Ergebnis ist immer katastrophal. Die Geschichte der Christenheit ist ein weiteres trauriges Beispiel hierfür – mit viel zu vielen schlimmen Facetten.

Die Menschen giert danach, Macht über andere Menschen ausüben zu können. Sie wollen nichts weiter, als sich über andere zu erheben und andere in den Dreck zu drücken. Besonders beliebt ist es, religiöse, frömmlerische oder heuchlerische Macht auszuüben. Hatten sich die Pharisäer, welche die Ehebrecherin ertappt hatten, nicht im Licht der Gerechtigkeit gesonnt? Sie, die ach so frommen Gesetzesgelehrten, hatten eine Schuldige ihres Verbrechens überführt und wären nun gerne jene gewesen, die dem Gesetz – ja, der Gerechtigkeit – zum Durchbruch verholfen hätten. Wie eklig muss es für den Herrn sein, wenn solche Sein Gesetz als Vorwand für ihre Heuchelei missbrauchen! Mit dem Willen Gottes hatte dies ebenso wenig zu tun wie die Taufe zur Busse der Vielen durch Johannes den Täufer. Diese Menschen hatten nicht wirklich Busse getan, sondern sind bloss für eine Zeit in seinem Licht fröhlich Joh 5, 35 gewesen (im Lichte Johannes’). Der Aufruf Johannes’ zur Busse war für die Vielen bloss eine Gelegenheit gewesen, sich auf einfache, «billige» Weise als fromm und religiös auszugeben. Später riefen genau diese Menschen: «Hosianna!» und zwei Tage später: «Kreuzige, kreuzige ihn!» Wir alle sonnen uns nur zu gerne in Gerechtigkeit, Heiligkeit, Barmherzigkeit oder Güte, doch wir sonnen uns nur gerne etwas darin. Unser Leben wollen wir nicht wirklich entsprechend ausrichten, weil dies unserem Stolz zuwider liefe. Liebe Geschwister, es nützt herzlich wenig, wenn wir wenige Stunden pro Woche fromm und religiös sind, wenn wir einer «guten» Versammlung angehören oder dergleichen, denn: 27 Ein reiner und unbefleckter Gottesdienst vor Gott und dem Vater ist dieser: Waisen und Witwen in ihrer Drangsal zu besuchen, sich selbst von der Welt unbefleckt zu erhalten Jak 1, 27. Wir müssen allezeit rein und unbefleckt sein, nicht bloss wenige Stunden pro Woche!

Das Zeitalter der Gnade unterscheidet sich also einerseits dadurch vom Zeitalter des Gesetzes, dass Gott das Gericht den Händen der unfähigen Menschen entrissen hat. Er will nicht länger, dass wir Sein Gesetz vollstrecken. Weil keiner von uns ohne Sünde ist, soll keiner von uns den ersten Stein werfen. Es spricht für die Pharisäer, dass es die Älteren unter ihnen waren, die zuerst gegangen sind. Diese hatten erkannt, wie wenig sie dem Massstab Gottes genügen konnten. Sie waren also nicht nur älter, sondern tatsächlich auch weiser. Diesbezüglich können wir von ihnen lernen. Für uns Christen gilt nun dasselbe: 4 Wer bist du, der du den Hausknecht eines anderen richtest? Er steht oder fällt seinem eigenen Herrn. Er wird aber aufrecht gehalten werden, denn der Herr vermag ihn aufrecht zu halten Röm 14, 4. Natürlich haben wir weiterhin die heilige Verantwortung, die Reinheit der Kirche Gottes zu bewahren, was bedeuten kann, dass im schlimmsten Fall Geschwister aus der Kirche ausgeschlossen werden müssen. Wir können und dürfen aber bildlich gesprochen keine Todesurteile mehr sprechen. Kein Christ sollte je über einen anderen Christen sagen: «Für den gibt es sowieso keine Hoffnung mehr!» oder dergleichen. Der Herr vermag jeden Christen aufrecht zu halten oder wieder aufzurichten, wenn er gestolpert ist.

Andererseits unterscheidet sich das Zeitalter der Gnade aber auch dadurch vom Zeitalter des Gesetzes, dass zwischen einem Urteilsspruch und der Vollstreckung der Strafe Jahrzehnte liegen können. Der Herr hat den Ehebruch nicht als belanglos qualifiziert. Im letzten Gericht wird Er bei der Beurteilung dieser Frau diese Tat berücksichtigen. Jeder Mensch wird sich für jede Tat, für jedes Wort und für jeden Gedanken vor Gott rechtfertigen müssen. Der Herr wird alles gerecht beurteilen und dann die Strafe vollstrecken. Einige werden nicht in diesem, aber in einem anderen Gericht erscheinen müssen, weil sie an den Herrn Jesus Christus glauben und Dieser daher für sie im Gericht gewesen ist und die Strafe getragen hat. Im Zeitalter des Gesetzes hat ein Ehebrecher umgehend getötet werden müssen. Im Zeitalter der Gnade wird ein Ehebrecher in der Regel nicht auf der Stelle getötet, aber er wird sich später dafür verantworten müssen. Das Gericht ist bloss zeitlich versetzt, aber nicht ausgesetzt worden. In der Zeit, die der Herr ihm schenkt, kann er Busse tun, um dem späteren Gericht zu entgehen. Tut er nicht Busse, wird er dafür gerichtet werden. Wir dürfen also nicht meinen, die Gottlosen würden ungestraft sündigen und dann noch aufblühen. Sie werden sich verantworten müssen. Der Psalmist, der fast verzweifelt ist, weil er gesehen hat, wie die Gottlosen ungestraft sündigten und die Gerechten unterdrückten, hat dies erkannt: Das Ende ist entscheidend (Ps 73). Wenn Nichtchristen oder Christen vermeintlich straflos sündigen, dürfen wir gewiss sein, dass sie dereinst die Rechnung erhalten werden. Der Herr hat im Zeitalter der Gnade keinen generellen Straferlass angeordnet, sondern bloss (aber immerhin) Zeit geschenkt, Zeit zur Busse. Der Aufruf an die Nichtchristen lautet: 19 So tut nun Busse und bekehrt euch, damit eure Sünden ausgetilgt werden Apg 3, 19; 30 nachdem nun Gott die Zeiten der Unwissenheit übersehen hat, gebietet er jetzt den Menschen, dass sie alle überall Busse tun sollen Apg 17, 30.

Die Begebenheit mit der Ehebrecherin veranschaulicht also, dass das Gesetz Gottes ewige Gültigkeit hat, dass Er selbst das Gericht vollstreckt (nachdem sich die Menschen hierfür als unfähig erwiesen haben) und dass Er das Gericht vollstrecken wird, allerdings zeitlich versetzt.