Jesus Christus ist der Herr! Phil 2, 11

Hiskias Briefe

Die Umstände

Die zwölf Stämme Israels bildeten nach dem Willen Gottes gemeinsam Sein Volk. Er hatte sie als Nachkommen von Abraham, Isaak und Jakob, genannt Israel, auserwählt, aus Ägypten befreit, durch das Rote Meer, die Wüste und den Jordan geführt und ihnen das Land Kanaan gegeben. Unter dem zweiten König, David, wurde das Reich erheblich ausgedehnt, unter Salomo, dem Sohn Davids, durfte das Volk eine Zeit des Friedens, Wohlstandes und Segens erleben, die derart herrlich war, dass sie zu Recht als Schatten auf das kommende tausendjährige Friedensreichs des Herrn Jesus angesehen wird.

Doch Salomo vollendete seinen Lauf nicht in Treue und Gehorsam. Aufgrund offensichtlicher, erheblicher Verstösse gegen die Ordnungen Gottes kam er im Alter zu Fall und endete als Götzendiener. Der Herr liess zwar um Davids willen grosse Gnade walten, sodass das Königreich dem Hause Davids nicht in den Tagen Salomos entrissen wurde und dem Haus Davids auch für die Zeit nach dem Ende der Dynastie ein Stamm belassen wurde (vgl. 1. Kön 11, 1–13). Doch das Gericht Gottes wurde in den Tagen Rehabeams, des Sohnes Salomos, vollstreckt: In jugendlicher Dummheit brachte Rehabeam Israel gegen sich auf, sodass die nördlichen zehn Stämme sich von ihm lossagten und ihm nurmehr Juda und Benjamin unterstellt blieben (vgl. 1. Kön 12, 1–25).

Das Nordreich fiel schnell vom Herrn ab. Bereits Jerobeam, der erste König des Nordreichs, versündigte sich derart schwerwiegend am Herrn und brachte das Volk so weit vom rechten Weg ab, dass er zum Sprichwort wurde: Von den späteren Königen, die sich den Ordnungen Gottes widersetzten, heisst es, sie seien auf den Wegen Jerobeams gewandelt (z. B. 1. Kön 15, 34; 1. Kön 16, 19; 1. Kön 22, 53). Doch auch die Könige des Südreiches waren am Ende nicht besser:

1 Im siebzehnten Jahr Pekachs, des Sohnes Remaljas, wurde Ahas König, der Sohn Jothams, des Königs von Juda. 2 Zwanzig Jahre war Ahas alt, als er König wurde, und er regierte sechzehn Jahre in Jerusalem. Und er tat nicht, was recht war in den Augen des Herrn, seines Gottes, wie sein Vater David; 3 sondern er wandelte auf dem Weg der Könige von Israel, und er liess sogar seinen Sohn durchs Feuer gehen, nach den Gräueln der Nationen, die der Herr vor den Kindern Israel vertrieben hatte; 4 und er opferte und räucherte auf den Höhen und auf den Hügeln und unter jedem grünen Baum. 2. Kön 16, 1–4

Hätte Israel weiter vom rechten Weg abkommen können? Alles lag – geistlich gesehen – in Trümmern: Das Volk zerstreut und in zwei Teile zerteilt, dem Götzendienst und der Sünde ergeben, in Gräueln schlimmer als die gottlosen Nationen ringsum und dem Herrn völlig ungehorsam (vgl. z. B. 2. Kön 21, 9 und Hes 5, 6. 7). Wir hätten allesamt, an der Stelle des Herrn, dieses widerwillige und halsstarrige Volk weit von uns geschleudert!

Nicht so der Herr – Er sei für Seine Güte und Barmherzigkeit über die Massen gepriesen! Ausgerechnet der Sohn Ahas’, des gottlosen Königs, wurde ein mächtiges Werkzeug der Gnade Gottes. Hiskia, der Sohn Ahas’, vollzog eine erstaunliche Wende und führte das Volk zurück zum Herrn:

3 Und er tat, was recht war in den Augen des Herrn, nach allem, was sein Vater David getan hatte. 4 Er tat die Höhen weg und zerschlug die Bildsäulen und rottete die Aschera aus und zertrümmerte die Schlange aus Kupfer, die Mose gemacht hatte; denn bis zu jenen Tagen hatten die Kinder Israel ihr geräuchert, und man nannte sie Nechustan. 5 Er vertraute auf den Herrn, den Gott Israels; und nach ihm ist seinesgleichen nicht gewesen unter allen Königen von Juda noch unter denen, die vor ihm waren. 6 Und er hing dem Herrn an, er wich nicht von ihm ab; und er hielt seine Gebote, die der Herr Mose geboten hatte. 2. Kön 18, 3–6

Welch Lichtstrahl in der dunklen Geschichte Israels! Hiskia und sein Urenkel Josia waren dem Herrn ergebene Könige des Südreiches, welche durch ihren geistlichen Eifer wenigstens für eine Zeit Segen für das Volk herbeiführen und das Gericht eine Weile hinauszögern konnten. Sie waren Ausnahmeerscheinungen und hatten weder mit ihren Vätern noch mit ihren Söhnen etwas gemeinsam, was die Treue gegenüber dem Herrn betrifft. Weil sie solche Ausnahmen waren, konnten sie leider das Gericht letztlich nicht verhindern. Kurz nach dem Tode Josias wurde auch das Südreich (Juda und Benjamin) in die Gefangenschaft geführt; das Nordreich war bereits zuvor vertrieben worden. Israel wurde beiseite gesetzt und die Zeiten der Nationen wurden eingeleitet.

Über die Grenzen hinweg

Um wieder auf Hiskia zurück zu kommen: Hiskia nahm sich nach der Reinigung des Tempels und der Priester und der Wiedereinsetzung des Gottesdienstes (2. Chron 29) vor, dem Herrn das Passah zu feiern, und zwar nach der Ordnung Moses. Dies geschah zwar in Schwachheit, denn sie konnten das Passah erst einen Monat später feiern, weil die Priester sich noch nicht in genügender Anzahl geheiligt hatten (2. Chron 30, 2. 3; vgl. 4. Mose 9). Es geschah aber aus reinem Herzen, weshalb der Herr nicht nur über geringfügige Makel hinwegsah (2. Chron 30, 19), sondern vielmehr sogar das ganze Volk heilte (2. Chron 30, 20). Wie herrlich! Welch Gnadenerweis von Seiten des Herrn!

Wir haben gesehen, dass Hiskia König des Südreiches war, also über die Stämme Juda und Benjamin. Die zehn nördlichen Stämme hatten sich von Rehabeam (also schon lange vor Hiskia) vom Südreich losgesagt und seither nichts mehr mit dem Südreich zu tun gehabt. Das Volk, das an sich eins hätte sein sollen, war schon längst in zwei unabhängige Völker unterteilt. Was hatte also nun das Südreich mit dem Nordreich zu schaffen? Eigentlich nichts, vom menschlichen Standpunkt aus gesehen. Daher erstaunt es, wenn wir lesen, dass Hiskia nicht nur Juda und Benjamin zum Passah einlud, sondern auch die Stämme des Nordreichs:

1 Und Jehiskia sandte hin zu ganz Israel und Juda und schrieb auch Briefe an Ephraim und Manasse, dass sie zum Haus des Herrn in Jerusalem kommen möchten, um dem Herrn, dem Gott Israels, Passah zu feiern. 2. Chron 30, 1

Hätte Hiskia, als einer, der dem Herrn nachfolgen wollte und in «seinem Reich aufgeräumt» hatte, nicht auf das Nordreich herabblicken müssen? Sollten diese «Abgefallenen» doch in ihren Sünden bleiben! Anders gefragt: Wie stehen denn wir, die wir uns – durch die Gnade des Herrn, was uns hoffentlich bewusst ist! – gemäss Seinem Willen ausserhalb jeglichen Systems und ohne menschliche Strukturen versammeln dürfen, zu «den andern», jenen, die sich Denominationen (Benennungen; Systemen mit eigenem Namen) angeschlossen haben? Natürlich würden wir im Brustton der Überzeugung behaupten, wir seien ihnen gegenüber aufgeschlossen und würden sie in ihren Rechten als Geschwister keinesfalls beschneiden wollen. Aber ist das wirklich so? Handeln wir so? Denken wir so? Fühlen wir so?

Wir müssen verstehen, dass es wirklich reine Gnade von Seiten des Herrn ist, wenn wir uns «richtig» mit Geschwistern versammeln dürfen, nicht unser eigenes Verdienst. Was, wenn wir in einer Denomination gross geworden wären? Wenn unsere Eltern sich dort mit Geschwistern versammelt hätten und wir einfach mitgegangen wären und nie etwas anderes kennengelernt hätten? Mussten nicht die Bewohner des israelitischen Nordreichs davon ausgehen, die goldenen Kälber in Bethel und Dan seien fester Bestandteil des «rechten» Gottesdienstes? Sie waren ja seit jeher vorhanden, und man kannte es gar nicht anders. O, möchten wir uns vor vorschnellen Urteilen hüten, ebensosehr wie davor, uns selbst anerkennend auf die Schulter zu klopfen!

Man kann gut behaupten, offen und aufgeschlossen gegenüber anderen Geschwistern zu sein, und sich gleichzeitig völlig abschotten. Ja, wenn die Leute aus den Denominationen nicht fragen, ob sie einer Zusammenkunft beiwohnen dürfen, dann haben sie doch selbst Schuld, nicht? Wenn sie sich in rechter Weise versammeln wollen, sollen sie doch kommen; wir werden ihnen schon erklären, wie das geht … Hiskia hatte nicht die Gnade, jene aus den zehn nördlichen Stämmen am Passah teilnehmen zu lassen, die sich bei ihm anmeldeten. Nein, er schickte Briefe an jene aus dem Nordreich, lud sie ein, am Passah teilzunehmen! Das ist etwas völlig anderes. Dabei handelte es sich nicht um eine halbherzige, fromme Übung, wovon wir uns anhand der Worte in diesen Briefen selbst überzeugen können:

6 Und die Läufer gingen mit den Briefen von der Hand des Königs und seiner Obersten durch ganz Israel und Juda, und nach dem Gebot des Königs, und sprachen: Kinder Israel! Kehrt um zu dem Herrn, dem Gott Abrahams, Isaaks und Israels, so wird er umkehren zu den Entronnenen, die euch aus der Hand der Könige von Assyrien übrig geblieben sind! 7 Und seid nicht wie eure Väter und wie eure Brüder, die treulos gehandelt haben gegen den Herrn, den Gott ihrer Väter, so dass er sie der Verwüstung hingegeben hat, wie ihr es seht. 8 Nun verhärtet euren Nacken nicht wie eure Väter; gebt dem Herrn die Hand und kommt zu seinem Heiligtum, das er geheiligt hat auf ewig, und dient dem Herrn, eurem Gott, damit die Glut seines Zorns sich von euch abwende! 9 Denn wenn ihr zu dem Herrn umkehrt, so werden eure Brüder und eure Kinder Barmherzigkeit finden vor denen, die sie gefangen weggeführt haben, und in dieses Land zurückkehren. Denn gnädig und barmherzig ist der Herr, euer Gott, und er wird das Angesicht nicht von euch abwenden, wenn ihr zu ihm umkehrt. 2. Chron 30, 6–9

Das war eine aufrichtige Einladung, ein Aufruf zur Busse, ein herzergreifendes Vorstellen der weit reichenden Gnade Gottes. Die Worte waren sehr weise gewählt, denn obwohl klar zum Ausdruck kam, dass eine Umkehr notwendig war – und eine solche war tatsächlich notwendig –, entstand nicht im Geringsten der Eindruck, Hiskia schriebe «von oben herab»; die Einladung war herzlich und vermittelte so den Eindruck eines echten Willkommenseins. Die Aussage der Briefe war klar: «Kommt an den Ort, an dem wir als Geschwister einträchtig zusammenkommen und Gott anbeten sollten!» Die Betonung lag auf der Einheit des Volkes Gottes, nicht auf dem Unterschied zwischen Nord- und Südreich. Legen wir wirklich eine gleich edle Haltung an den Tag? Betonen wir die geschwisterliche Einheit – natürlich, ohne über eine allfällige Notwendigkeit der Umkehr hinwegzusehen – oder nutzen wir sich bietende Gelegenheiten, um zu betonen, dass wir im Gegensatz zu den andern in Ordnung seien?

Sich nach dem Willen Gottes zu versammeln, bedeutet nicht einfach, sich von jeglichem System und jeglicher Benennung zu distanzieren, sondern auch, die Einheit der Kirche nach dem Ratschluss Gottes hochzuhalten. Natürlich muss eine Absonderung stattfinden, denn wir sollen nicht an dem festhalten, was nach dem Willen Gottes keine Daseinsberechtigung hat. Gleichzeitig muss aber auch echte Offenheit vorhanden sein. Denn sobald es ein «wir» und ein «ihr» gibt, sind wir nichts weiter als eine weitere Abspaltung oder Sekte. Genau das zeichnet solche nämlich aus: Sie unterscheiden zwischen solchen, die gemäss ihren Vorstellungen zusammenkommen, und «den andern». In den Denominationen steht jedem ein Gastrecht zu, aber jemand, der nicht zum «Verein» (leider statuieren sich die meisten Denominationen als Verein) gehört, hat nie und nimmer dieselben Rechte wie Vereinsmitglieder. Wenn wir auch keinen Verein gründen und uns keinen Namen geben – wenn wir in gleicher Weise (unzulässige) Unterscheidungen zwischen «Mitgliedern» und anderen vornehmen, sind wir keinen Deut besser.

Natürlich ist eine gewisse Vorsicht angebracht, wenn man Leute einlädt, die man eigentlich nicht kennt. Natürlich dürfen wir nicht «offener» sein als der Herr – denn es ist Seine Versammlung –, aber wir dürfen nun mal eben auch nicht «geschlossener» sein. Im Falle Hiskias führte es übrigens allein der Herr, dass nur jene am Passah teilnahmen, die zugelassen waren. Die meisten verspotteten nämlich die Boten Hiskias (2. Chon 30, 10), und nur einige Wenige folgten der Einladung – diese demütigten sich aber (2. Chron 30, 11).

Deshalb: Nehmen wir uns ein Beispiel an der edlen Gesinnung Hiskias und begegnen wir unseren Geschwistern, die sich nicht so versammeln wie wir, aufgeschlossen; suchen wir doch danach, ihre Herzen für den Herrn und Sein Wort zu entflammen und in ihnen den brennenden Wunsch zu wecken, dem Herrn immer näher und näher zu kommen und Ihm stets ähnlicher zu werden! Wer weiss, vielleicht dürfen wir einen Beitrag daran leisten, dass einige Wenige aus dem Nordreich nach Jerusalem kommen, um das Passah zu feiern? Das wäre doch ein grosser Gewinn! Siehe, wie gut und wie lieblich ist es, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen! Ps 133, 1.