Jakobs Weg
Esau, der Bruder Jakobs
Esau ist eine der traurigeren Gestalten in der Bibel. Wer seinen Namen hört, denkt wohl vor allem daran, dass er sein Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht verkaufte, und dass er von seinem Bruder Jakob um den Segen Isaaks betrogen wurde. Das Urteil über Esau ist hart: 16 dass nicht jemand ein Hurer sei oder ein Ungöttlicher wie Esau, der für eine Speise sein Erstgeburtsrecht verkaufte
Hebr 12, 16; Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehasst
Röm 9, 13. Und doch findet sich in 1. Mose 36 eine äusserst ausführliche Beschreibung darüber, wen Esau geheiratet hat und welche Nachkommen ihm geboren wurden bzw. wie sich sein Geschlecht fortgesetzt hat. Man könnte daher sagen, dass der Herr durchaus vom Leben Esaus Notiz nahm. Jedenfalls griff Er aber nicht ein; alles, was Esau tat, erweckt den Eindruck, er sei durchwegs seinen eigenen Weg gegangen, habe nach eigenem Gutdünken gehandelt. Es gibt keine Korrekturen von Seiten Gottes, kein Sprechen des Herrn, nur Eigendünkel und Selbstbestimmung.
Das ist nicht die Art, wie Gläubige ihr Leben führen sollten. Es ist ja gerade Teil der Umkehr zu Gott, dass wir aufhören, unser Leben nach eigenem Gutdünken zu führen. Wer wahrhaft zum Herrn umkehrt, anerkennt, dass ihn sein bisheriger Wandel im Eigendünkel vom Herrn entfernt hat – so weit, dass es eines schrecklichen Preises bedurfte, um den Zugang zu Gott wiederherzustellen. Es sollte der Wunsch eines jeden Gläubigen sein, fortan vom Herrn geführt zu werden. Es gilt ja auch, ein Ziel zu erreichen. Wir sollen unsere restliche Zeit hier nicht einfach dahinleben, sondern nutzen, um vom Herrn geschult und umgewandelt zu werden. Die Erbschaft, die für uns bereit steht, können wir nicht so antreten wie ein junger, fauler Nichtsnutz, der seine Jugend mit Unsinn und Vergnügungen verbracht hat und nun – so, wie er ist – das Imperium seines Vaters übernehmen soll. Nein, der Herr wird im kommenden Zeitalter in Gerechtigkeit und Weisheit regieren; unseren jeweiligen Verantwortlichkeitsbereich sollen wir ebenso verwalten. Dafür müssen wir ausgebildet werden. Wenn wir in Eigendünkel leben, verpassen wir die Ausbildung und werden bei der Rückkehr des Herrn Jesus als völlig unfähige Taugenichtse befunden.
Offenbarung bei Bethel
Jakobs Leben verlief anders. Es nahm zwar einen ähnlichen Anfang, denn auch Jakob schien in erster Linie mit sich selbst beschäftigt gewesen zu sein. Allerdings trachtete er offenbar von Beginn weg nach höheren Dingen als Esau: Das Erstgeburtsrecht war Jakob wichtiger – und er bewies viel taktisches Gespür, als er die passende Situation auszunutzen wusste –, und auch der Segen des Vaters war ihm ein Risiko wert. Jakob gab sich nicht (wie Esau) mit Frauen aus der Umgebung und der Jagd zufrieden, sondern «investierte» mehr und klüger in die Zukunft. Hätte sich sein Leben so weiter entwickelt, hätte ihm das aber auch nicht viel genützt – es wäre genauso ein selbstbestimmtes Leben gewesen wie Esaus.
Als Jakob aber vor Esau flüchtete, geschah etwas, das Esau während seines ganzen Lebens nicht widerfuhr: Der Herr griff in sein Leben ein. Bei Bethel offenbarte Er sich und gab Jakob Anweisungen:
10 Und Jakob zog aus von Beerseba und ging nach Haran. 11 Und er gelangte an einen Ort und übernachtete dort; denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen von den Steinen des Ortes und legte ihn an sein Kopfende und legte sich nieder an jenem Ort. 12 Und er träumte: Und siehe, eine Leiter war auf die Erde gestellt, und ihre Spitze rührte an den Himmel; und siehe, Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. 13 Und siehe, der Herr stand über ihr und sprach: Ich bin der Herr, der Gott Abrahams, deines Vaters, und der Gott Isaaks; das Land, auf dem du liegst, dir will ich es geben und deinen Nachkommen. 14 Und deine Nachkommen sollen wie der Staub der Erde werden, und du wirst dich ausbreiten nach Westen und nach Osten und nach Norden und nach Süden; und in dir und in deinen Nachkommen sollen gesegnet werden alle Familien der Erde. 15 Und siehe, ich bin mit dir, und ich will dich behüten überall, wohin du gehst, und dich zurückbringen in dieses Land; denn ich werde dich nicht verlassen, bis ich getan, was ich zu dir geredet habe. 16 Und Jakob erwachte aus seinem Schlaf und sprach: Gewiss, der Herr ist an diesem Ort, und ich wusste es nicht! 17 Und er fürchtete sich und sprach: Wie furchtbar ist dieser Ort! Dies ist nichts anderes als Gottes Haus, und dies ist die Pforte des Himmels. 1. Mose 28, 10–17
Hier zeigte der Herr Jakob auf, was das Ende seines Lebens sein sollte. Jakob sollte in das Land Kanaan bzw. nach Bethel zurückkehren; das Land sollte ihm und seinen Nachkommen gegeben werden, seine Nachkommen sollten zahlreich werden, sich ausbreiten und allen Familien der Erde zum Segen werden. Das war also das grosse Ziel, dass der Herr mit Jakob erreichen wollte. Wie wunderbar, wenn der Herr ein Ziel mit uns erreichen will! Esau lebte einfach so dahin, ziellos und damit letztlich sinnlos. Er lebte sein Leben, tat, was ihn recht dünkte, und starb. Nicht so Jakob: Sein Leben sollte der Weg zu einem bestimmten Ziel sein, es sollte einem bestimmten Zweck dienen und einen bestimmten Sinn haben.
Wer zum echten Glauben an den Herrn Jesus gekommen ist, befindet sich genau in derselben Lage wie Jakob. Es ist, wie wenn der Herr ihm oder ihr persönlich erscheinen und sagen würde: «Ab heute hat dein Leben ein bestimmtes Ziel und einen definierten Sinn. Ich will, dass du an den und den Punkt gelangst.» Liebe Geschwister im Herrn, so ist es wirklich! Der Herr will uns an den Punkt führen, an dem wir Ihm und Seinem herrlichen Charakter entsprechen, an dem wir fähig sind (in jeder Lage und Situation!), so zu handeln, wie Er handeln würde, an dem wir treue Verwalter in Seinem Reich und gute Diener sind. Wie bereits gesagt, will Er, dass wir uns in einem in jeder Hinsicht passenden Zustand befinden, wenn wir die himmlische Erbschaft antreten. Bildlich gesehen sollen die Leute den Eindruck haben, dass wir das Erbe ganz im Sinne des Erblassers verwalten werden, und nicht, dass wir es verprassen und vergeuden werden.
Wir müssen hierfür gar nicht so viel lernen. Es braucht kein umfangreiches Wissen, um die Erbschaft passend antreten zu können. Aber das Wenige, das es zu lernen gibt, muss bis ins Innerste sitzen, das müssen wir verinnerlicht haben. Es benötigt nicht viel Zeit, um jemandem darzulegen, wie sein Zustand sein sollte, aber es benötigt ein ganzes Leben – die Zeit ist sogar dann sehr knapp! –, um sich in diesem Zustand zu befinden und zu bewähren. Wir müssen unzählige Lektionen im Alltag über uns ergehen lassen, um dies zu verinnerlichen, aber der Herr wird – wie mit Jakob – jede Stunde mit uns sein, uns unterweisen und uns helfen. Bereits zu erfahren, wie man diese Schule durchläuft, wie man Lektionen lernt, an sie herangeführt und hindurch begleitet wird, ist beeindruckend. Die Lektionen sind nicht selten schmerzlich und hart, und wenn wir uns mittendrin befinden, können wir die Ansicht, das Werk des Herrn an uns sei herrlich, wohl nur bedingt bestätigen. Rückblickend sind wir aber in aller Regel froh um jede Lektion – denn jede Lektion dient ja einem Zweck mit Ewigkeitswert. Zudem werden wir zunehmend fähiger, unser Leben hier besser zu bewältigen. Schliesslich ist der Herr stets nahe, sodass wir alle Not und alles Leid Ihm hinlegen und darbringen können; Er spendet uns Trost und trägt uns durch, wie Er es bereits Jakob versprochen hatte. Deshalb, liebe Geschwister, blicken wir auf das Ziel und strengen wir uns an, dahin zu gelangen!
Umwege
Die Rückreise von Jakob ins Land, das der Herr bestimmt hatte, verzögerte sich in der Folge. Jakob lernte zwar wichtige Lektionen, denn Laban kann als ein Spiegel gesehen werden, der Jakob vorgehalten wurde, war er doch ebenso ein Betrüger wie Jakob. Eines Tages war aber die Zeit gekommen, zurückzukehren. Deshalb sprach der Herr erneut zu Jakob:
3 Und der Herr sprach zu Jakob: Kehre zurück in das Land deiner Väter und zu deiner Verwandtschaft, und ich will mit dir sein. 13 Ich bin der Gott von Bethel, wo du ein Denkmal gesalbt, wo du mir ein Gelübde getan hast. Nun mach dich auf, zieh aus diesem Land und kehre zurück in das Land deiner Verwandtschaft. 1. Mose 31, 3. 13
Ich masse mir nicht an zu behaupten, Jakob hätte Jahre bei Laban verschwendet oder sei zu spät zurückgekehrt. Wie erwähnt, lernte er auch bei Laban wichtige Lektionen. Jedenfalls war an diesem Tag der Zeitpunkt des Aufbruchs gekommen und jedenfalls benötigte Jakob eine ausdrückliche Aufforderung von Seiten des Herrns. Er brach also nicht von selbst auf, als die Zeit gekommen war, sondern musste darauf hingewiesen werden. Hierin sehen wir aber auch, dass sich der Herr nicht damit begnügt, uns das Ziel aufzuzeigen, das es zu erreichen gilt. Nein, wo notwendig, greift Er korrigierend und unterstützend ein. Wenn wir selber an einem Punkt eine Korrektur notwendig haben, wird der Herr es so führen, dass wir weiter vorangehen können.
Als Christen machen wir uns manchmal vielleicht falsche Vorstellungen davon, wie der Herr Anteil an unserem Leben nimmt. Wir meinen vielleicht, wir sollten Ihn bei wichtigen Entscheidungen um Rat fragen, dass Er uns bei wichtigen Entscheiden führt, und dass Er ansonsten als Hilfe zur Verfügung steht. So fragen wir beispielsweise den Herrn, welche Arbeitsstelle wir antreten sollen. Ist der Entscheid gefällt, gehen wir tagein, tagaus arbeiten und sehen diese Zeit unbewusst als Pflicht, die nicht viel mit geistlichen Dingen zu tun hat. Man kann es aber auch umgekehrt sehen: Wo wir arbeiten, ist nicht entscheidend, sondern entscheidend ist, dass wir unsere Arbeit zusammen mit und im Sinne des Herrn tun, dass wir also gewissermassen an unserer Arbeitsstelle «geschliffen» werden. Beides ist unter Umständen wahr; wichtig ist, dass der Herr jeden Tag mit uns und völlig in unsere Pflichten und Beschäftigungen involviert ist und Anteil daran hat. In der Schule des Herrn befinden wir uns mit anderen Worten jeden Tag, und das nicht nur während einiger (besonders geistlicher) Minuten. Solange es dem Herrn gefällt, sollen wir also etwa an der Arbeitsstelle, an der wir uns gerade befinden, unsere Lektionen lernen. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, weiter zu ziehen, wird der Herr uns darauf hinweisen. Danach führt Er uns nicht nur bei der Wahl der neuen Arbeitsstelle, sondern nimmt uns dort wieder in die Schule. So bietet jeder Tag die Gelegenheit, in verschiedenen Situationen und Rollen (Arbeitnehmer, Hausfrau, Familienvater usw.) Lektionen in der Schule Gottes zu lernen – ein unschätzbares Privileg!
Auf dem Weg nach Bethel begegnete Jakob Esau. Esau – wohl auch, weil er im Hier und Jetzt lebte – hatte Jakob vergeben und wollte nun mit ihm zusammen ziehen. Unter fadenscheinigen Vorwänden konnte sich Jakob von Esau trennen. Dass er nicht mit Esau zog, war sicherlich richtig; weshalb er aber nicht sagte, er müsse nach Bethel gehen, ist unverständlich. Es widerspiegelt nicht gerade den Charakter des Herrn, zu sagen, man komme später nach, obwohl man ganz ein anderes Ziel hat. Viel wesentlicher ist aber, dass Jakob danach nicht nach Bethel zog:
17 Und Jakob brach auf nach Sukkot und baute sich ein Haus, und seinem Vieh machte er Hütten; darum gab er dem Ort den Namen Sukkot. 18 Und Jakob kam wohlbehalten zur Stadt Sichem, die im Land Kanaan ist, als er aus Paddan-Aram kam, und lagerte vor der Stadt. 19 Und er kaufte das Stück Feld, wo er sein Zelt aufgeschlagen hatte, von der Hand der Söhne Hemors, des Vaters Sichems, für hundert Kesita. 20 Und er richtete dort einen Altar auf und nannte ihn: Gott, der Gott Israels. 1. Mose 33, 17–20
Jakob zog nach Sukkot und baute sich dort ein Haus. Das Haus zeugt von Beständigkeit. Statt weiter in Zelten zu wohnen und damit für einen Weiterzug bereit zu sein, wurde Jakob sesshaft – am falschen Ort. Dazu kaufte er sich ein Stück Feld, wiederum ein Ausdruck des Willens, sesshaft zu werden. Jakob machte damit einen Umweg. Statt schnurstracks auf das Ziel zuzulaufen, blieb er unterwegs stehen und machte einen Abstecher. Das war nicht die Haltung, die verlangt wird, denn der christliche Weg ist ein Wettlauf, bei dem es das Ziel zu erreichen gilt (1. Kor 9, 24; Hebr 12, 1).
Wir alle machen unsere Umwege. Es gibt immer wieder Dinge, die nicht zielführend, aber eben doch verlockend sind – Dinge, die Zeit und Energie kosten und uns von unserem Lauf aufs Ziel zu ablenken. Für eine gewisse Zeit mögen uns solche Dinge Freude und Befriedigung verschaffen, aber wir sind darauf ausgelegt, ein sinnvolles, zielführendes Leben zu führen. Abstecher und Umwege werden uns daher nie bleibende Befriedigung verschaffen können. Wir werden stets an den Punkt gelangen, an dem wir den Umweg bereuen werden. Wenn wir jung sind, glauben wir das den Älteren vielleicht nicht recht, weil wir ja (scheinbar) noch unendlich viel Zeit haben und gar nicht recht wissen, was wir mit der vielen Zeit anfangen sollen. Wir müssen nur wenig älter werden, um zu verstehen, dass die Zeit wirklich äusserst knapp ist und dass vergeudete Zeit nur schwer wieder wettgemacht werden kann.
Jetzt aber!
Jakob hatte also sein Haus am falschen Ort gebaut, ein Feld an einem ebenso falschen Ort gekauft und sich dort niedergelassen. Was tat der Herr? Wie herrlich! Er forderte Jakob nochmals auf, (endlich!) nach Bethel zu gehen:
1 Und Gott sprach zu Jakob: Mach dich auf, zieh hinauf nach Bethel und wohne dort, und mache dort einen Altar dem Gott, der dir erschienen ist, als du vor deinem Bruder Esau flohest. 2 Da sprach Jakob zu seinem Haus und zu allen, die bei ihm waren: Tut die fremden Götter weg, die in eurer Mitte sind, und reinigt euch, und wechselt eure Kleidung; 3 und wir wollen uns aufmachen und nach Bethel hinaufziehen, und ich werde dort einen Altar machen dem Gott, der mir geantwortet hat am Tag meiner Drangsal und mit mir gewesen ist auf dem Weg, den ich gegangen bin. 1. Mose 35, 1–3
Diese Aufforderung wurde von Jakob verstanden, und zwar besser als die früheren Aufforderungen. Erstens reagierte Jakob sofort und zwar zielgerichtet. Nun wollte er wirklich nach Bethel zurückkehren – so rasch als möglich. Sein Haus, sein Feld, nichts hielt ihn am Ort, nichts liess ihn zögern. Er hatte sich zwar niedergelassen und war sesshaft geworden, aber glücklicherweise liess er sich nun nicht dadurch hindern, dem Herrn zu folgen und das Ziel zu erreichen. Zweitens war Jakob völlig bewusst, dass er nicht einfach so nach Bethel gehen konnte; die fremden Götter mussten weggetan werden, die Leute mussten sich reinigen und die Kleidung wechseln. Ja, wenn wir an dem Ort sein wollen, an dem der Herr zu finden ist, an dem Er uns haben will, dann müssen wir in Übereinstimmung mit Ihm sein. Wir können nicht fremde Götter und Altlasten unseres früheren Lebens mitnehmen und beides dort haben – Gemeinschaft mit dem Herrn und Ausleben des alten Ichs. Entweder – oder, lautet die Devise.
Wie sieht es bei uns aus? Vielleicht hat der Herr viel Gnade geschenkt und uns erlaubt, uns in gewisser Hinsicht hier niederzulassen. Vielleicht haben wir ein Haus, in das wir Zeit, Energie und Geld investiert haben, vielleicht eine gute berufliche Stellung, vielleicht ein gutes soziales Netz. Was ist, wenn der Herr zu uns sagt, es sei Zeit, aufzubrechen? Was ist, wenn der Herr uns woanders weiterlernen lassen will? Wenn wir unser Haus verlassen oder verkaufen, unsere berufliche Stellung aufgeben, unser soziales Netz verlassen sollen? Reagieren wir dann wie Jakob am Ende oder zögern wir? So schwer es fallen mag, gewisse Dinge aufzugeben, letztlich geht es um eine einfache Abwägung: Entweder glauben wir, dass wir unser Glück in dem finden, was wir haben, oder wir glauben, dass wir unser Glück beim Herrn finden. Wir können das zerreden, aber am Ende geht es nur darum. Wenn der Herr uns hier Gutes erwiesen hat, wird Er uns dann nicht auch am andern Ort Gutes erweisen? Und wenn Er Seine Hand zurückzieht, werden wir dann nicht hier ins Elend geraten? Alles Mögliche kann sich sehr rasch ins Gegenteil verkehren – es kann heute gut und morgen schlecht sein. An der Arbeitsstelle muss nur eine einzige Person ersetzt werden und ein ganzes Team gerät ins Elend. Segen und Glück finden wir bleibend nur beim Herrn, das ist eine Tatsache. Ob wir uns hier oder dort befinden – Hauptsache, zusammen mit dem Herrn! Wir bejahen das vielleicht (vor-)schnell, aber entscheidend ist, ob wir uns dann auch so verhalten, wenn die Zeit gekommen ist. Es gibt Dinge in meinem Leben, von denen ich mehr oder weniger bewusst hoffe, sie möchten sich nicht ändern. Es sind Dinge, die mir äusserst wichtig sind, Dinge, von denen ich vielleicht sogar ein Stück weit denke, jede Alternative dazu müsse schlechter sein. Dieses Denken ist falsch. Der Herr schenkt Seinen Segen in diesen Dingen. Solange Er das weiter tut und will, dass ich darin bleibe, bleibe ich, sobald sich das ändert, muss ich bereit sein, diese Änderung zu akzeptieren. Ich darf ja nicht an den Dingen festhalten, ich muss am Herrn festhalten. So einfach ist das. Geschrieben und gesagt ist es schnell – aber getan?
Zum zweiten Punkt: Als Christen sind wir unendlich privilegiert, weil uns nicht nur (wie etwa Esther) gestattet wird, vor einen grossen König zu treten – ja, vor den König der Könige, den Herrn über alle Herren, den Schöpfer, Bewahrer und Herrscher des gesamten Universums! –, sondern weil sich dieser grosse, herrliche König als unser Vater offenbart, weil Er die Gemeinschaft mit uns sucht, wie ein Mann mit einem Freund. Weil es sich so verhält, und weil wir jederzeit und an jedem Ort Zugang zum Herrn haben können, neigen wir bisweilen dazu, in gewisser Weise gering darüber zu denken. Wir legen etwa nicht so viel Wert darauf, völlig in Ordnung zu sein, wenn wir vor den Herrn treten; wir vernachlässigen vielleicht den prüfenden Blick auf unser Leben; wir denken beispielsweise, wir könnten Ansprüche stellen. O, wie falsch ist solches Denken! Der Herr muss nicht froh sein, wenn wir vor Ihn treten – wir müssen unendlich dankbar sein! Der Herr muss uns nicht danken, wenn wir einen Dienst für Ihn ausführen – wir müssen Ihm danken, dass Er uns mit der Ehre betraut, Ihm dienen zu dürfen! Der Herr muss nicht «locker» sein, weil wir Ihm besonders nahe sind – im Gegenteil: Je näher, desto strenger! Wer so nah wie möglich beim Herrn sein will, der muss möglichst in Übereinstimmung mit dem Herrn sein. Mose, der von Angesicht zu Angesicht mit dem Herrn reden durfte, war der sanftmütigste Mensch auf der Erde. Hätte er nicht wahre Demut so sehr verinnerlicht gehabt und hätte er sich nicht von allem anderen völlig losgesagt, er hätte nicht so Umgang mit dem Herrn haben können. Genauso wenig hätte Jakob mitsamt den fremden Göttern, ungewaschen und mit schmutzigen Kleidern in Bethel vor dem Herrn erscheinen können. Ebenso wenig hätte der Hohepriester ohne Blut und Reinigung ins Allerheilgste treten dürfen. Und umso mehr können wir nicht schmutzig vor den Herrn treten. Wer meint, er könne sich in der Welt unterhalten und gleich anschliessend vor den Herrn treten, der täuscht sich. Direkt aus weltlicher Vergnügung heraus werden wir nie so innige Gemeinschaft mit dem Herrn haben können wie nach einem Tag, an dem wir versucht haben, Ihn zu ehren und in Übereinstimmung mit Seinem Willen zu handeln.
Leider verbinden wir die Gemeinschaft mit dem Herrn gedanklich oft mit Pflichterfüllung. Der Gedanke daran, einen ganzen Abend lang nur ruhig und still vor dem Herrn zu sein, in Seinem Wort zu lesen, zu Ihm zu beten, als Priester vor Ihm zu dienen, jagt uns Angst ein. «Wäre das nicht schlimm, einfach nur vier Stunden ruhig da zu sitzen? Würden wir dann nicht einschlafen, würden nicht unsere Gedanken abschweifen? Eine halbe Stunde würde doch auch reichen; danach könnte man noch etwas fern sehen oder Musik hören oder sich am Computer vertun …» Wer hat das «Experiment» bereits einmal gewagt? Nicht als fromme Übung, sondern aus dem Verlangen heraus, Gemeinschaft mit dem Herrn zu haben? Wenn Er uns wirklich kostbar geworden ist, wenn wir ernsthaft Seine Herrlichkeit und Vollkommenheit, Seine Person, bewundern, dann werden wir das Verlangen haben, Zeit mit Ihm zu verbringen. Ist es nicht so, dass wir auch mit Menschen, die uns wertvoll sind, gerne viel Zeit verbringen? Wenn wir uns verlieben, was interessieren uns noch Fernseher und Computer? Wollen wir dann nicht lieber jede freie Sekunde mit der oder dem Begehrten verbringen? Wenn wir einen guten Freund oder eine gute Freundin haben, verbringen wir dann nicht lieber einen Abend mit ihm oder ihr als vor dem Fernseher oder dem Computer? Eben. Wenn wir dieses Verlangen nicht auch in Bezug auf den Herrn haben, was kann denn der Grund sein, wenn nicht mangelnde Wertschätzung? Glückselig jeder und jede, der oder die das aufrichtige Verlangen hat, einfach nur Zeit mit dem Herrn zu verbringen! Dieses Verlangen ist eigentlich in jedem von uns angelegt – so wurden wir geschaffen –, bloss haben wir es nur zu oft völlig oder zu weiten Teilen unterdrückt. Graben wir es wieder aus!
Am Ziel
Viele Jahre später war Jakob am Ziel angelangt. Das zeigt sich sehr schön in der Begegnung mit dem Pharao:
7 Und Joseph brachte seinen Vater Jakob und stellte ihn dem Pharao vor. Und Jakob segnete den Pharao. 8 Und der Pharao sprach zu Jakob: Wie viele sind die Tage deiner Lebensjahre? 9 Und Jakob sprach zum Pharao: Die Tage der Jahre meiner Fremdlingschaft sind 130 Jahre; wenig und böse waren die Tage meiner Lebensjahre, und sie haben die Tage der Lebensjahre meiner Väter in den Tagen ihrer Fremdlingschaft nicht erreicht. 10 Und Jakob segnete den Pharao und ging vom Pharao hinaus. 1. Mose 47, 7–10
Zweimal wird erwähnt, dass Jakob den Pharao segnete. Er war sich seiner Stellung vor Gott also völlig bewusst, denn stets wird das Geringere vom Höheren gesegnet (Hebr 7, 7). Auch der Begriff «Fremdlingschaft» wird zweimal erwähnt, ein treffender Ausdruck für solche, die nicht Befriedigung in dieser Welt suchen, sondern bei Gott (vgl. Hebr 11, 8–16). Die ganze Haltung Jakobs – so wenig davon auch ersichtlich wird – zeigt deutlich, dass er dieser Welt gestorben war. Er trachtete nicht mehr nach eigenem Nutzen, tat nicht mehr, was ihn recht dünkte, sondern trat als einer auf, der in der Gegenwart Gottes ist – Seine Herrlichkeit widerspiegelnd. Das war ein anderer Jakob als der, der Esau das Erstgeburtsrecht abkaufte und ihn um seinen Segen betrog. Sehr schön, wenn ein Leben so endet!
Ein Wermutstropfen bleibt aber: Jakob bezeichnete die Tage seiner Lebensjahre als wenig und böse, die Tage der Lebensjahre seiner Väter nicht erreichend. Er hatte Zeit vergeudet, war Umwege gegangen, hatte nicht mehr alle verlorene Zeit wettmachen können. Obwohl der Herr ihn an das Ziel geführt hatte, schwang die bittere Erkenntnis mit, dass noch mehr möglich gewesen wäre. Liebe Geschwister im Herrn! Befleissigen wir uns hier und jetzt, den Weg zu gehen, den der Herr uns dargelegt hat! Nicht, dass wir am Ende unseres Lebens wie Jakob zugeben müssen, dass noch mehr möglich gewesen wäre! Vergeudete Zeit kann nicht einfach wieder wettgemacht werden. Ein Marathonläufer kann seinen Lauf nicht für eine kurze Vergnügung unterbrechen und dann trotzdem in derselben Zeit beenden, wie wenn er ununterbrochen gelaufen wäre. Glauben wir dem Herrn, wenn Er sagt: 15 Gebt nun Acht, wie ihr sorgfältig wandelt, nicht als Unweise, sondern als Weise, 16 die die gelegene Zeit auskaufen, denn die Tage sind böse
Eph 5, 15. 16. Amen.