Überläufer
Gnade und Gericht
Alle, die an den Herrn Jesus glauben, haben einen Wechsel in ihrer Stellung gegenüber Gott vollzogen, wie geschrieben steht: 24 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod in das Leben übergegangen
Joh 5, 24. Das Zeugnis Gottes ist klar, deutlich und für jeden Menschen leicht verständlich: Weil wir Menschen nicht dem entsprechen, was wir vor Gott sein sollten – unsere Gedanken, Worte und Handlungen sind zumindest nicht ausnahmslos von inniger, echter Liebe zu Gott und unseren Nächsten geprägt –, sind wir dem Gericht verfallen. Wir werden uns nach unserem Tod vor Gott für alles zu verantworten haben (und es wird sehr genau Buch geführt!) und werden dann ein gerechtes Urteil empfangen. Das heisst, jeder Mensch kommt ins Gericht (vgl. Hebr 9, 27). Jene aber, die an den Herrn Jesus glauben, kommen nicht ins Gericht, sondern sind aus dem Tod in das Leben übergegangen. Auch das ist nicht schwer zu verstehen. Christen (im Sinne der Bibel) sind nicht besser als andere Menschen, aber sie müssen sich nicht vor Gericht verantworten. Weshalb das? Weil sie auf einen Stellvertreter verweisen können, der sich an ihrer Stelle bereits vor Gericht verantwortet, das Urteil empfangen und die Vollstreckung über sich hat ergehen lassen – Jesus Christus, der Sohn des lebendigen Gottes. Er hat am Kreuz gelitten, um unsere Schuld zu sühnen, hat die gerechte Strafe für unsere Schuld empfangen. Deshalb sind Christen glückliche Menschen: Sie müssen keine Angst vor dem Gericht nach dem Tod haben, weil sie so sicher ewiges Leben haben wie der Herr Jesus aus den Toten auferstanden ist (vgl. Röm 4, 25). Mehr als das! Statt als Angeklagte vor dem Richter dürfen Christen als Kinder vor dem Vater erscheinen. Gott kann sich ihnen als der Vater offenbaren, der Er allen Menschen sein will, weil alles, was zwischen Ihm und ihnen steht, die ganze Schuld, die eine Trennung bewirkt hat, beseitigt worden ist. Kurz: Christen begegnen nach ihrem Tod nicht ihrem Richter, sondern ihrem (himmlischen) Vater. Was für eine schöne Aussicht! Deshalb heisst es beispielsweise auch: 15 Kostbar ist in den Augen des Herrn der Tod seiner Frommen
Ps 116, 15 – wenn ein Gläubiger stirbt, kommt er nicht ins Gericht, sondern nach Hause, zu Seinem Vater, und das ist nun wirklich etwas Kostbares!
Das alles darf und soll allezeit vor unseren Augen stehen, unsere Herzen erfreuen und uns erquicken. Doch leider hört man davon meist nur, wenn sich ein Christ etwas hat zuschulden lassen kommen oder zurechtgewiesen oder ermahnt wurde. Ich sage einem Bruder, er solle dieses oder jenes tun oder unterlassen, und er antwortet mir, er sei nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade. Damit will er sagen, dass es doch keine Rolle spielt, ob er dieses oder jenes tut oder unterlässt, weil darüber ja nicht gerichtet wird, weil es ja heisst, wer an den Herrn Jesus glaubt, komme nicht ins Gericht. Wie falsch ein solcher Gedanke ist, kann kaum in Worte gefasst werden. Wer solches nur schon denkt, tritt im Grunde alles mit Füssen, was ihm Gutes widerfahren ist.
Wie denn? Sollen wir von Gott die Errettung, die Sohnschaft und das Erbe (um nur einiges Weniges zu erwähnen) annehmen und in Sein Haus kommen, uns aber nicht einmal für die Hausordnung interessieren? Soll es uns egal sein, dass es unsere Sünden waren, für die der Herr Jesus unermessliche Qualen auf sich genommen hat? Sollen wir denken, dass es auf eine Sünde mehr oder weniger nicht mehr ankommt? Sollen wir die Gnade und die Güte Gottes mit Ungehorsam und Gleichgültigkeit erwidern? Sollen wir die Hand beissen, die uns aus dem kotigen Schlamm gezogen hat? Glauben wir wirklich, Gott sei es egal, wie sich Seine Kinder verhalten? Meinen wir ernsthaft, Er würde bei allen, die an Ihn glauben, einfach beide Augen ganz fest zudrücken? Kann es sein, dass Er von jenen, die fern sind, viel fordert, und von jenen, die nah sind, nichts? Und wenn der Glauben an Gott wirklich mit einer Umkehr verbunden ist, weshalb sollen wir dann trotzdem – auch nur in einem Punkt! – so weiter leben können wie zuvor? Wie kann man nur ernsthaft eine solche Ansicht vertreten! Wie muss so etwas ein Stich ins Herz des Vaters sein! Würden unsere Kinder unsere Liebe – die kümmerlich ist im Vergleich zur Liebe Gottes – so erwidern, wie würden wir darauf reagieren? Ich will denjenigen sehen, der seine Kinder liebt und auf eine solche Erwiderung seiner Liebe nur mit den Schultern zuckt!
Es gibt übrigens ein anschauliches Beispiel für Leben unter Gnade in der Bibel: Als Davids Ende nahte, wollte Adonija die Königsherrschaft widerrechtlich an sich reissen, doch schlug seine Verschwörung gegen den vorgesehenen Nachfolger (Salomo) fehl. Adonija flüchtete dann zum Altar des Herrn und bat um Gnade, woraufhin Salomo ihn verschonte (vgl. 1. Kön 1). Die Gnade, die Salomo an Adonija erwies, war zwar eine bedingte, denn Salomo sprach: Wenn er sich als ein tüchtiger Mann erweisen wird, so soll von seinem Haar keins auf die Erde fallen; wenn aber Böses an ihm gefunden wird, so soll er sterben
1. Kön 1, 52. Das ist bei Christen nicht der Fall, denn die Gnade Gottes, die Errettung, ist eine unbedingte, also nicht von uns selbst abhängig. Das Beispiel zeigt aber doch etwas auf, das auch für Christen gilt: Adonija hätte Strafe für sein Verhalten verdient, wurde aber verschont und lebte danach unter Gnade weiter. Doch bedeutete das, dass er sich verhalten konnte, wie er wollte? Wurde durch die Gnade Salomos seine Verantwortlichkeit nicht vielmehr erhöht? Musste er anschliessend nicht umso mehr darauf achten, wie er sich verhielt? Natürlich! Als er nämlich frech wurde und die schönste Frau Israels für sich forderte, war es um ihn geschehen:
22 Da antwortete der König Salomo und sprach zu seiner Mutter: Und warum bittest du um Abischag, die Sunamitin, für Adonija? Bitte für ihn auch um das Königtum – denn er ist mein älterer Bruder –, sowohl für ihn als auch für Abjathar, den Priester, und für Joab, den Sohn der Zeruja! 23 Und der König Salomo schwor bei dem Herrn und sprach: So soll mir Gott tun und so hinzufügen! Um sein Leben hat Adonija dieses Wort geredet! 24 Und nun, so wahr der Herr lebt, der mich befestigt hat und mich hat sitzen lassen auf dem Thron meines Vaters David und der mir ein Haus gemacht, so wie er geredet hat: Heute soll Adonija getötet werden! 25 Und der König Salomo sandte hin durch Benaja, den Sohn Jojadas; und er stiess ihn nieder, und er starb. 1. Kön 2, 22–25
Wie erwähnt, solches kann Christen nicht drohen, weil ihre Errettung eine unbedingte ist. Das ist hier aber nicht der springende Punkt. Der springende Punkt ist vielmehr: Wenn jemandem Gnade widerfahren ist, dann ist danach nicht völlig egal, wie er sich gegenüber demjenigen, der Gnade erwiesen hat, verhält – das Gegenteil ist der Fall: Die erwiesene Gnade erhöht die Verantwortlichkeit.
Berücksichtigt man zudem, dass wir Christen den Namen Gottes tragen, wir also gewissermassen in Seinem Namen auftreten und unser Handeln entsprechend immer auch Auswirkungen auf Seinen Ruf hat, dann wird die Sache noch ernster. Oder soll es Gott egal sein, wenn Sein Name unsertwillen verlästert wird?
Das alles ist doch so einfach zu verstehen! Dass darüber heute in der Christenheit so viel Verwirrung herrscht, ist nicht darauf zurückzuführen, dass das nicht einleuchtet, sondern wohl darauf, dass man das nicht wahrhaben will. Der Gedanke, dass der Wandel nicht so wichtig sei, ist natürlich zu bestechend, aber deswegen nicht richtig. Die Frage lautet daher nicht: Kann ich das verstehen? sondern vielmehr: Will ich das verstehen?
Zu diesem Punkt soll abschliessend nur der Gedanke erwähnt werden, dass ein Christ mehr zu verlieren hat als die Errettung. Israel wurde bedingungslos als Volk Gottes erwählt, die Verheissungen an die Väter waren unbedingt, und doch hat dieses Volk wohl deutlich mehr gelitten als jedes andere Volk. Solches ist beispielsweise geschehen: Ihre festen Städte wirst du in Brand stecken und ihre Jünglinge mit dem Schwert töten, und ihre Kinder wirst du zerschmettern und ihre Schwangeren aufschlitzen
2. Kön 8, 12, und das war – wie auch der Holocaust – nur ein Vorbote der kommenden grossen Trübsal, die unsägliches, nie gekanntes Leid mit sich bringen wird. Ja, ist denn Israel nicht Volk Gottes? Doch, und gerade deshalb wird die Widerspenstigkeit des Volkes so behandelt! Ein anderes Beispiel: In schwierigen Zeiten gaben die meisten Leviten den Dienst am Heiligtum Gottes auf. Nur die Söhne Zadoks blieben treu. Im kommenden Reich werden die Leviten daher nur noch niedere Dienste verrichten dürfen, während es allein den Söhnen Zadoks vorbehalten ist, dem Herrn zu nahen (vgl. Hes 44, 10–16). Die Leviten haben infolge ihrer Untreue also effektiv etwas verloren. Ich sehe keinen einzigen guten Grund, weshalb widerspenstige Christen nicht ebenfalls durch Leid zurechtgebracht werden sollen oder weshalb sie nicht auch Verluste erleiden sollen. Und ist es nicht eindrücklich, dass es in 1. Kor 3, 15 heisst, dass ein Christ auch nur wie durchs Feuer hindurch gerettet werden und dabei Schaden erleiden kann? Ja, was stellen wir uns denn darunter vor, wenn wir annehmen, unser Wandel sei von keinerlei Relevanz? Da wird es doch sehr schwierig, das Wort Gottes auszulegen.
Seltsame Aufforderung
Die Geschichte Israels ist bekannt: Das Volk war bereits in der Wüste, unmittelbar nach seiner Errettung widerspenstig, ungehorsam und götzendienerisch. Endlich im guten Land angekommen, wurde es nur noch schlimmer. Israel war schlimmer als die Nationen, die der Herr aus dem Land vertrieben hatte. Es hörte nicht auf die Propheten, es kehrte nicht um, seinetwillen wurde der Name Gottes unter den Nationen verlästert. Kein Grund, uns selbst auf die Schulter zu klopfen! Wir Christen treiben es grösstenteils noch ärger als die Israeliten – von offensichtlichem Ungehorsam über Verfälschungen des Wortes Gottes, freche Lügen bis hin zur Gotteslästerung wird nichts ausgelassen. Wir sind nichts anderes als ein zerstrittener, unmoralischer, selbstsüchtiger Haufen von Leuten, die behaupten, den Namen Gottes für sich in Anspruch nehmen zu dürfen. Ich schäme mich bisweilen zu sagen, ich sei Christ. Es betrübt mich, dass das, was der Herr Jesus selbst gestiftet hat, so sehr in den Dreck gezogen wurde und wird, dass so vieles mit Seinem herrlichen Namen in Verbindung gebracht wird, das überhaupt nichts mit Ihm gemein hat. Wenn wir Christen Licht und Salz in der Welt sein sollen, dann ist es heute wahrlich finster und fad. Das Verderben ist bereits weit fortgeschritten. Wovor einige Nichtchristen vielleicht aus Gewissensgründen noch zurückschrecken würden – die Christen gehen in der Bosheit forsch voran und nehmen bisweilen gar noch eine Vorreiterrole ein. Es ist ein unsägliches Trauerspiel, weit entfernt von dem, was es sein sollte. Ich schäme mich.
Dabei schliesse ich mich selbst gewiss nicht aus. Auch in meinem Leben ist – mild ausgedrückt – noch sehr viel Verbesserungspotential vorhanden. Aber es tut not, auf offenbare Missstände hinzuweisen, zur Umkehr aufzurufen, sich aufzuraffen und den Weg des Herrn zu gehen! Wir dürfen nicht auf unser Versagen oder auf das Versagen anderer blicken, sondern müssen tun, was wir noch tun können, bevor es zu spät ist. Wir dürfen nicht in Fatalismus verfallen, dürfen nicht denken, nun sei alles verloren, nun spiele es keine Rolle mehr, ob wir als Einzelne noch etwas mehr oder weniger gehorchen. Nein, wir müssen den Eifer an den Tag legen, den Josia an den Tag legte, als das Gericht bereits fest und unwiderruflich beschlossen war! Es spielt eine Rolle, ob wir in dieser Zeit als einige Wenige gehorsam sind oder nicht, auch wenn bald die Christenheit als Zeugnis Gottes öffentlich verworfen werden wird; der Herr nimmt Notiz von uns und von dem, was wir tun. Was Josia tat, war nicht vergebens, auch wenn Juda bald darauf in die Gefangenschaft geführt wurde.
Die Erwähnung Josias führt nun zum nächsten Thema: Bald nach ihm wurde verwirklicht, was bereits ihm mitgeteilt worden war – das Gericht kam über Juda, und die Juden wurden in die Gefangenschaft geführt. Selbst in jener Zeit noch appellierte Gott allerdings an Sein Volk, und zwar vor allem durch Jeremia. Auch wurde den Juden eine zusätzliche Gelegenheit zur Umkehr geschenkt, denn die Chaldäer fielen zweimal ins Land ein. Beim ersten Mal führten sie nicht das ganze Volk in die Gefangenschaft und zerstörten insbesondere Jerusalem nicht. Es war, wie wenn der Herr dem Volk in eindrücklicher Weise aufzeigen wollte, dass es nun wirklich ernst galt. Unbegreifliche Langmut Gottes! Er hatte mit diesem widerspenstigen Volk ebenso viel Geduld wie Er es heute mit uns hat. Selbst im allerletzten Moment, als wirklich alles verloren war, schenkte Er noch eine Möglichkeit der Rettung:
4 So spricht der Herr, der Gott Israels: Siehe, ich will die Kriegswaffen umwenden, die in eurer Hand sind, mit denen ihr ausserhalb der Mauer gegen den König von Babel und gegen die Chaldäer kämpft, die euch belagern, und sie in diese Stadt hinein versammeln. 5 Und ich selbst werde gegen euch kämpfen mit ausgestreckter Hand und mit starkem Arm und mit Zorn und mit Grimm und mit grosser Wut. 6 Und ich werde die Bewohner dieser Stadt schlagen, sowohl Menschen als Vieh; an einer grossen Pest sollen sie sterben. 7 Und danach, spricht der Herr, werde ich Zedekia, den König von Juda, und seine Knechte und das Volk, und zwar die, die in dieser Stadt von der Pest, vom Schwert und vom Hunger übrig geblieben sind, in die Hand Nebukadrezars, des Königs von Babel, geben, und in die Hand ihrer Feinde und in die Hand derer, die nach ihrem Leben trachten; und er wird sie schlagen mit der Schärfe des Schwertes, er wird sie nicht verschonen und kein Mitleid haben und sich nicht erbarmen. 8 Und zu diesem Volk sollst du sagen: So spricht der Herr: Siehe, ich lege euch den Weg des Lebens vor und den Weg des Todes. 9 Wer in dieser Stadt bleibt, wird sterben durch Schwert und durch Hunger und durch Pest; wer aber hinausgeht und zu den Chaldäern überläuft, die euch belagern, wird leben, und seine Seele wird ihm zur Beute sein. 10 Denn ich habe mein Angesicht gegen diese Stadt gerichtet zum Bösen und nicht zum Guten, spricht der Herr; sie wird in die Hand des Königs von Babel gegeben werden, und er wird sie mit Feuer verbrennen. Jer 21, 4–10
Der Herr selbst wollte gegen die Stadt kämpfen; Er hatte sein Angesicht gegen sie gerichtet zum Bösen und nicht zum Guten! Was gab es da noch zu hoffen? Die Juden waren alle des Todes! Aber es gab neben diesem Weg des Todes – welch Gnade! – noch einen Weg des Lebens: Wer zu den Chaldäern überlaufen würde, würde leben, und seine Seele würde ihm zur Beute sein. Das war nun allerdings wirklich eine seltsame Aufforderung. Hatte der Herr nicht von Jerusalem gesagt, Er wolle Seinen Namen an diesem Ort wohnen lassen? Waren nicht die Chaldäer Feinde, Frevler, die den Tempel Gottes verwüsten wollten? Waren nicht die Israeliten Gottes Volk? War ihnen nicht geboten worden, sich nicht mit anderen Völkern zu vermischen? Und jetzt sollten sie zu ihren Feinden überlaufen, um am Leben zu bleiben?
Wenn wir bedenken, dass die Antwort auf frühere Gerichtsankündigungen und Aufrufe durch Jeremia gelautet hatte: Der Tempel des Herrn, der Tempel des Herrn, der Tempel des Herrn ist dies!
Jer 7, 4, und dass man Jeremia auch später für seine Worte fast getötet hätte (Jer 26), dann liegt der Schluss nahe, dass wohl nur sehr Wenige zu den Chaldäern übergelaufen sind. Die Mehrheit wird sich wohl darauf verlassen haben, dass der Herr nicht zulassen würde, dass Sein Tempel zerstört wird. Ich bin mir sicher, dass wenn den Christen in einer vergleichbaren Situation eine ähnliche Möglichkeit geboten wird, die meisten davon keinen Gebrauch machen werden. Heute befinden wir uns zwar noch nicht in derartiger Bedrängnis, aber wir haben doch – immer wieder neu – ähnliche Entscheidungen zu treffen.
In der Stadt bleiben
Was den Meisten in den meisten Situationen am nächsten liegen dürfte, ist, in der Stadt zu bleiben. Dafür gibt es durchaus Argumente: Der Herr hatte Jerusalem erwählt und verheissen, Seinen Namen dort wohnen zu lassen. Es war also die Stadt des Herrn, in der sich der Tempel des Herrn, die Wohnstätte Gottes selbst, befand. Der Gottesdienst musste dort ausgeübt werden; an jedem anderen Ort war er untersagt. Alles also, was hätte Sicherheit vermitteln können, befand sich in Jerusalem: Der Name Gottes, die Bundeslade, der Tempel, die Priester, die Opfer und so weiter und so fort. Nicht zu vergessen: Die Verheissung galt ebenfalls diesem Ort. Man konnte das Bleiben in der Stadt mit dem Wort Gottes begründen, der gesagt hatte, Er würde dort sein. Zudem war man sich an die Stadt gewöhnt. Man kannte die Stadt, wusste, was einen erwartete. Die Stadt war auch so gesehen die sicherere Alternative als das Überlaufen zu den Chaldäern; man wusste, woran man war.
Wofür steht denn nun die Stadt im übertragenen Sinne? Wohl am ehesten für christliche Religion, für etwas, das den richtigen Namen trägt, aber zu einer leeren Hülle verkommen ist. Die Stadt kann für eine bestimmte Lehre stehen, der wir zustimmen, für eine bestimmte christliche Gruppierung, der wir uns zugehörig fühlen, für eine Lebenshaltung. In der Stadt zu bleiben, kann bedeuten, daran zu glauben, dass Christen ihre Errettung verlieren können. Es gibt Stellen in der Bibel, die diese Lehre zu stützen scheinen, der Gedanke liegt irgendwie nahe, man kann entsprechend argumentieren. Die Lehre ist aber falsch; sie führt in die Irre. In der Stadt zu bleiben, kann auch bedeuten, sich zu einer christlichen Gruppierung zu stellen, die sich nicht völlig am Wort Gottes ausrichtet, sich beispielsweise einen eigenen Namen gibt, Priester, Pastoren oder dergleichen anstellt, zwischen Vereinsmitgliedern und Nichtvereinsmitgliedern unterscheidet oder ähnliches. Die führenden Leute in solchen Gruppierungen wollen meist auch dem Herrn nachfolgen oder erwecken zumindest diesen Eindruck. Der Gedanke, der dazu führte, dass man sich von anderen Christen gewissermassen als eigene Gruppierung absonderte, kann nachvollziehbar sein. Die anderen Leute, mit denen man Gemeinschaft hat, können fromm und hingebungsvoll erscheinen. Wenn aber das Halten der «Vereinsordnung» bedingt, dass man es in gewissen Punkten mit der Bibel nicht mehr allzu genau nehmen darf, dann ist es falsch, sich weiterhin an diese Gruppierung zu halten. In der Stadt zu bleiben, kann aber auch bedeuten, selbst gewisse persönliche Bereiche dem Wirken des Herrn vorzuenthalten. Man verbringt vielleicht zu viel Zeit mit alten Freunden, die nicht an den Herrn glauben, und betrinkt sich regelmässig mit ihnen. Oder man nimmt es nicht allzu genau mit seinen Pflichten gegenüber dem Arbeitgeber. Alles kann irgendwie begründet werden – und wir sind sehr erfinderisch in solchen Dingen! –, für alles kann man irgendeine scheinbar halbwegs passende Bibelstelle anführen, aber es ist und bleibt falsch.
Das sind alles nur kleine Beispiele. Für die Juden ging es zur Zeit der Belagerung durch die Chaldäer um einiges mehr: Die Stadt zu verlassen und zu den Chaldäern überzulaufen, bedeutete, sich das Ende des israelitischen Gottesdienstes einzugestehen. Es bedeutete, die Möglichkeit, den rechten Gottesdienst auszuüben, aufzugeben, denn dieser konnte nur in Jerusalem ausgeübt werden. Es bedeutete, sich einzugestehen, dass man als Volk Gottes völlig und unwiderruflich versagt hatte, dass man nicht mehr den rechten Gottesdienst ausgeübt hatte, sondern bloss religiös gewesen war. Es bedeutete aber auch, alles Vertraute aufzugeben, das Haus, in dem man aufgewachsen war und gewohnt hatte, die vertrauten Strassen und Gassen, die gewohnte Umgebung, einfach alles. Es bedeutete schliesslich auch, sich den Feinden völlig auszuliefern, sich wehrlos in ihre Hände zu begeben und ihrer Willkür auszusetzen, gefangen geführt und verschleppt zu werden.
Wir sollten also nicht vorschnell über die Israeliten richten. Denn wenn wir selbst nicht in der Lage sind, in kleinen Dingen «Überläufer» zu sein, steht es uns nicht an, den Israeliten vorzuwerfen, dass sie nicht alles aufgaben, um ihr Leben zu retten. Die ernste Frage, die sich uns beim Lesen der Ereignisse stellen muss, ist die, ob wir selbst «Überläufer» sind, ob wir bereit sind, Dinge, an denen wir hängen, gemäss dem Wort Gottes aufzugeben. Denn es heisst: 6 Diese Dinge aber sind als Vorbilder für uns geschehen, damit wir nicht nach bösen Dingen begehren, wie auch jene begehrten
1. Kor 10, 6. Wir dürfen nicht zu gut von uns selbst denken; wir benötigen – unter anderem – diese Vorbilder, weil wir sonst selbst nach bösen Dingen begehren würden. Die alte Natur muss tagtäglich mit Gewalt im Tod gehalten werden, damit wir nicht zurückfallen oder vom Weg abkommen. So ist es auch nicht übertrieben, wenn Paulus schreibt: Ich zerschlage meinen Leib und führe ihn in Knechtschaft, damit ich nicht etwa, nachdem ich anderen gepredigt habe, selbst verwerflich werde
1. Kor 9, 27.
Überlaufen
Wie bereits angetönt, bedeutete, zu den Chaldäern überzulaufen, alles Bisherige hinter sich zu lassen, zu akzeptieren, dass das, was davor gewesen war, zu einem Ende gekommen war. Wer Jerusalem verliess, gab gewissermassen die Stadt auf und räumte sinngemäss ein, dass der alte Weg falsch gewesen war. Das kam einer völligen Bankrotterklärung gleich. Das ist allerdings nur die negativ gefärbte Sichtweise, denn diese Bankrotterklärung bedeutete ja auch, den – von Gott festgesetzten – Abschluss des alten Wandels völlig zu akzeptieren. Es bedeutete, mit dem alten, von Gott verworfenen System zu brechen, sich willentlich von dem zu lösen, von dem Gott erklärt hatte, Er wolle nichts mehr damit zu tun haben.
Überzulaufen bedeutete auch Übereinstimmung mit Gottes Willen in einem weiteren Sinn. Es bedeutete nicht nur, das Urteil Gottes über das alte System (von dem man ein Teil war) zu akzeptieren, sondern auch, das zu tun, was Gott aufzeigte. Wer zu den Chaldäern überlief, der entschied sich, lieber den Weg Gottes zu gehen als den alten, gewohnten Weg. Das ist es aber, was Gott sucht. Er sucht nicht religiöse Menschen, die sich an Formen und Riten halten, Ihn mit ihren Lippen ehren, in ihren Herzen aber weit von Ihm entfernt sind. Vielmehr sucht Er Menschen, die eine Beziehung zu Ihm aufnehmen und unterhalten wollen, die Ihn suchen, die Seinen Willen suchen, danach fragen und demgemäss handeln. Er sucht Menschen, die Ihm völlig vertrauen. Menschlich betrachtet lieferten sich die Israeliten, die zu den Chaldäern überliefen, deren Willkür aus. Geistlich betrachtet handelten sie aber im Vertrauen auf Gott, im Vertrauen darauf, dass Er gesagt hatte, nur so würden sie ihr Leben behalten. Sie wählten den Weg, der menschlich betrachtet der gefährlichste, geistlich betrachtet aber der einzig sichere war.Der Herr Jesus war Sein ganzes Leben hindurch ein «Überläufer». Er hielt sich nicht an menschliche Konventionen und Ordnungen, wägte nicht ab, wie Sein Handeln auf die Menschen wirken würde, handelte nicht politisch, nicht taktisch oder strategisch, sondern einfach stets nach dem Willen Gottes, kostete es, was es wollte. Wenn der Vater in den Himmeln Ihn hiess zu gehen, ging Er. Wenn Er Ihn hiess, still zu sein, war Er still. Wenn der Vater Ihn hiess, an einem Sabbat zu heilen, heilte Er an einem Sabbat – mochten die religiösen Juden darauf reagieren, wie sie wollten. So lebte der Herr Jesus unter uns wie Einer, der nicht von dieser Welt ist. Er war nicht wie wir (vermeintlich) in menschlichen Ordnungen eingebunden, sondern fällte jede einzelne Entscheidung schlicht gemäss dem Willen Gottes. Es kann nicht genug betont werden, wie wertvoll das in den Augen des Himmlischen Vaters gewesen sein muss!
Was in der Aufforderung Jeremias so schön zum Ausdruck kommt, ist, dass das Festhalten an einem religiösen System gerade die falsche Entscheidung sein kann. Nicht alles, was einen christlichen Anstrich hat, ist per se gut. Es mag für uns selbst genügen, wenn die Gruppierung, der wir uns zugehörig fühlen, mehr oder weniger einen «christlichen Kurs» (was immer das heissen mag) verfolgt, wenn wir uns ab und zu mit «christlichen Dingen» beschäftigen und wenn wir uns für unsere sonstigen Beschäftigungen und Neigungen eine biblische Begründung zurecht biegen können. Dem Herrn genügt das nicht. Er will nicht, dass wir einer christlichen Gruppierung angehören, einen «christlichen Kurs» verfolgen oder unsere Beschäftigungen mehr oder weniger rechtfertigen können. Er will, dass wir Ihm vertrauen, dass uns alles, was die Beziehung zu Ihm auch nur irgendwie stören könnte, zu Dreck wird, dass wir uns für das interessieren, was Ihn interessiert, dass wir empfinden, wie Er empfindet, dass wir durch und durch so handeln, wie Er handeln würde. Es genügt nicht, wenn wir uns nichts Gröberes zuschulden kommen lassen – nein, wir müssen mehr und mehr in völliger Übereinstimmung mit dem Wesen Gottes sein, in inniger, ungestörter, beständiger Beziehung zu Ihm, in allem, was wir tun. Es geht nicht darum, was wir dürfen und was nicht, sondern darum, wie wichtig uns die ungestörte, vertraute Beziehung zu Gott ist, ob wir gewillt sind, alles, was stört, abzulegen, nicht nur Sünde, sondern auch jede andere Bürde, jedes andere Hindernis. Lieber Leser! Vielleicht interessierst du dich für ein bestimmtes Thema, in das du dich stundenlang vertiefen kannst, das dich beschäftigt, über das du noch mehr lernen willst. Das ist schön und wohl auch keine Sünde. Wenn du deswegen aber die Zeit, die du in der Stille vor dem Herrn verbringst, beschränken musst, oder wenn dich die Gedanken während diesen stillen Zeiten ablenken, dann musst du dich fragen, ob du lieber dieses Thema nachverfolgen oder dem Herrn näher kommen möchtest. Du sündigst vielleicht nicht, wenn du das Thema weiterverfolgst, aber du beschneidest dein Wachstum im Herrn. Das ist eine schlichte Tatsache. Du selbst musst entscheiden, was dir wichtiger ist. Wir alle müssen entscheiden, jeden Tag neu. Der Herr möge uns helfen, mehr und mehr «Überläufer» zu werden!