Die Vision am Fluss Ulai
Die Zeiten der Nationen– so hat Christus selbst die Ära der Vorherrschaft der Nationen genannt. Die Menschen vertreten zwar die Auffassung, dass sie selbst die Herrschaft über die Erde hätten; sie verwerfen den Gedanken an eine göttliche Einmischung in ihre Angelegenheiten. Zwar scheinen die Monarchen ihre Herrscherstellung entweder Erbansprüchen, dem Schwert oder Wahlergebnissen zu verdanken. Manchmal fehlen sogar die individuellen Fähigkeiten, die für die Ausübung von Regierungsmacht notwendig wären. Aber jede Regierungsmacht ist göttlichen Ursprungs, da
der Höchste über das Königtum der Menschen herrscht und es verleiht, wem er willDan 4, 22. In Ausübung dieser Seiner Hoheit hat der Herr das Szepter, das er dem Haus Davids anvertraut hatte, in die Hände der Nationen übergeben. Die Geschichte von der Herrschaft der Nationen bildet nun den zentralen Gegenstand der früheren Visionen des Propheten Daniel.
Die Vision im achten Kapitel des Buches Daniel hat allerdings einen engeren Fokus. Sie betrifft nicht die ganze Ära der Zeiten der Nationen, sondern befasst sich nur mit den zwei Königreichen, die in der Vision vom grossen Standbild im zweiten Kapitel durch den Mittelteil – durch die Arme und den Körper – dargestellt werden. Das medo-persische Reich und seine relative Überlegenheit (als jüngere Nation) werden durch einen Widder symbolisiert, der zwei Hörner hat, von denen das eine grösser als das andere ist, obwohl es als zweites gewachsen ist. Der Aufstieg des griechischen Reichs unter Alexander und die Aufteilung dieses Reichs auf dessen vier Nachfolger werden durch einen Ziegenbock mit einem einzigen Horn zwischen seinen Augen dargestellt, das zerbrochen und von vier neuen Hörnern an seiner Stelle ersetzt wird. Aus einem dieser vier Hörner wächst ein kleines Horn, das einen König darstellt, der später als ein Gotteslästerer und als ein Judenverfolger berüchtigt werden sollte.
Zweifellos passt der Werdegang von Antiochus Epiphanes ganz besonders zu dieser Vision. Ebenso klar (wenn auch nicht einhellig anerkannt) ist aber, dass die vollständige Erfüllung der Prophezeiung immer noch in der Zukunft liegt. Das kann mit zwei Beweisen belegt werden: Erstens sind die auffälligsten Details der Vision bislang zugegebenermassen völlig unerfüllt gebliebenFussnote; zweitens wird ausdrücklich festgehalten, dass diese Ereignisse erst in der letzten Zeit des Zorns
Dan 8, 19 stattfinden werden, also in der Grossen Drangsal der letzten Tage (Mt 24, 21), das heisst in der Zeit der Bedrängnis, die der kompletten Errettung Judas unmittelbar vorausgehen wirdFussnote. An dieser Stelle muss allerdings nicht weiter auf diese Dinge eingegangen werden, da sie nicht zum spezifischen Gegenstand dieses Buches gehören. Die Vision vom Widder und vom Ziegenbock ist in diesem Zusammenhang nur von Bedeutung, weil sie bei der Auslegung der vorangehenden Visionen hilfreich istFussnote.
Ein Punkt bezüglich der Prophezeiung über das vierte Königreich der Nationen verlangt aber eine besondere Aufmerksamkeit: Die Vision von Alexanders Herrschaft und von der Vierteilung seines Reiches legt den Schluss nahe, dass die einzelnen in der Vision beschriebenen Ereignisse rasch aufeinander folgen würden. Tatsächlich hat sich die Prophezeiung gemäss den historischen Ereignissen in jenen 33 Jahren, die zwischen den Schlachten in Issus und in Ipsus vergangen sindFussnote, vollständig erfüllt. Zwar liegt es vor diesem Hintergrund nahe, anzunehmen, dass sich der Aufstieg der zehn Hörner des vierten Tiers in der Vision vom siebten Kapitel in einer ähnlich kurzen Zeit verwirklicht habe wie der Aufstieg der vier Hörner des Ziegenbocks im achten Kapitel. Aber historisch steht zweifelsfrei fest, dass das Römische Reich bis zum heutigen Zeitpunkt noch nie in zehn Teile zersplittert ist. Bislang kann man nur dem jeweiligen Aufstieg der ersten drei Tiere in der Vision ein genaues Datum zuweisen. Wenn man aber annimmt, dass – spätestens – die Schlacht von Actium bereits zur Epoche des vierten Tiers gehört hat, dessen Beschreibung die Vision des Propheten Daniel abschliesst, dann kann man bei der Auslegung der Prophezeiung die ganze Weltgeschichte in der Zeit zwischen Augustus und jetzt vollständig ausblenden, ohne auch nur eine Sequenz der Vision zu überspringenFussnote. In anderen Worten blendet des Propheten Blick in die Zukunft unsere nun schon 19 JahrhunderteFussnote dauernde Ära komplett aus. Es verhält sich wie mit zwei Bergspitzen, die sich aus weiter Ferne betrachtet beinahe zu berühren scheinen, obwohl in Tat und Wahrheit eine weite Ausdehnung mit Flüssen, Feldern und Hügeln zwischen den beiden Bergen liegt: Die Vision des Propheten betrifft einerseits Ereignisse, die mittlerweile weit in der Vergangenheit liegen, und andererseits Ereignisse, die auch heute noch in der Zukunft liegen; aber die Ereignisse scheinen aus der Sicht des Propheten nahe beieinander zu liegen.
Mit dem Neuen Testament in unseren Händen würden wir eine seltsame und widerspenstige Ignoranz an den Tag legen, wenn wir nicht anerkennen würden, dass dieses lange Intervall unserer christlichen Ära aus Daniels Prophezeiungen ausgeblendet worden ist. Wenn die detaillierte Offenbarung im neunten Kapitel, die sich auf die Jahre vor dem ersten Kommen des Messias bezieht, auch diese 19 JahrhunderteFussnote beinhalten würde, wie hätte der Herr dann die nahe Erfüllung dieser Prophezeiungen bezeugen und bekräftigen können, dass das Königreich nahe gekommen sei?Fussnote Dann müssten wir ja entweder annehmen, dass Sein Zeugnis nicht wahrhaftig und treu gewesen sei, was gotteslästerlich wäre, oder aber, dass schon im Alten Testament von Beginn weg ein jahrhundertelanges Intervall prophezeit worden wäre, in dem Israel verworfen sein müsste, bevor die Verheissungen erfüllt werden könnten. Diese Annahme wäre aber trügerisch und irreführend, denn das würde ja bedeuten, dass die Juden den Herrn Jesus verwerfen mussten. Ein solcher Gedanke ist schriftwidrig. Die beiden Kommen Christi liegen in den alttestamentlichen Schriften deshalb scheinbar so nahe zusammen, weil Er, der alle Herzen kennt, den Juden eine echte Gelegenheit geboten hat, den Herrn Jesus nicht zu verwerfen. Der vordergründige Lauf der menschlichen Verantwortung und der menschlichen Schuld bleibt vom unveränderlichen und tiefer liegenden Strom der Vorkenntnis und Souveränität Gottes unberührt. Die Juden waren voll und ganz verantwortlich, als sie ihren lang zuvor verheissenen König und Retter ablehnten; ihre Schuld war unverzeihlich. Sie waren nicht die Opfer eines unabwendbaren Schicksals, das sie in ihr Verderben getrieben hätte, sondern sie übten ihren freien Willen aus, als sie den Herrn der Herrlichkeit kreuzigten. Sein Blut komme auf uns und auf unsere Kinder
, war ihr schrecklicher, gotteslästerlicher Ruf vor dem Richterstuhl des Pilatus, und 18 Jahrhunderte langFussnote mussten sie nun schon die bitteren Früchte ihres selbst gesprochenen Urteils ernten. Aber das ist noch nicht alles. Noch steht der schreckliche Höhepunkt jener Zeiten der Trübsal, wie es sie nie gegeben hat, seit es Nationen gibt
ausFussnote.
Diese Visionen waren voller Geheimnisse für Daniel, und sie füllten den Kopf des alten Propheten mit beängstigenden Gedanken (Dan 7, 28; Dan 8, 27). Eine lange Reihe von Ereignissen schien der Erfüllung der verheissenen Segnungen für seine Nation vorangehen zu müssen, aber gerade diese Offenbarungen bekräftigten die Sicherheit, mit der sich jene Segnungen erfüllen würden. Nach nicht langer Zeit wurde Daniel Zeuge von Babylons Untergang, und er sah, wie ein Fremder mitten in der Stadt mit den dicken Mauern gekrönt wurde. Dieser Herrschaftswechsel brachte Juda allerdings keine Hoffnung. Zwar wurde Daniel wieder zu jener Ehre und Macht gebracht, die er unter Nebukadnezzar so lange gehabt hatte (Dan 2, 48; Dan 6, 2), aber er blieb ein Fremdling. Sein Volk befand sich noch immer in Gefangenschaft, die Stadt Jerusalem lag noch immer in Trümmern und ihr Land war noch immer eine Ödnis. Das Geheimnis wurde nur noch geheimnisvoller, als er sich Jeremias Prophezeiung zuwandte, laut der die Zeit für die Verwüstung Jerusalems
Dan 9, 2 auf 70 Jahre begrenzt sein sollte. So richtete er sein Angesicht zu Gott, dem Herrn, um ihn mit Gebet und Flehen zu suchen, in Fasten und Sacktuch und Asche
Dan 9, 3. Als ein Fürst seines Volkes bekannte er den nationalen Abfall und er bat um Wiederherstellung und Vergebung. Wer könnte sein Gebet lesen, ohne davon zutiefst berührt zu werden?
Herr, nach allen deinen Gerechtigkeiten lass doch deinen Zorn und deinen Grimm sich wenden von deiner Stadt Jerusalem, deinem heiligen Berg! Denn wegen unserer Sünden und der Ungerechtigkeiten unserer Väter sind Jerusalem und dein Volk allen denen zum Hohn geworden, die uns umgeben. Und nun höre, unser Gott, auf das Gebet deines Knechtes und auf sein Flehen; und um des Herrn willen lass dein Angesicht leuchten über dein verwüstetes Heiligtum! Neige, mein Gott, dein Ohr und höre! Tu deine Augen auf und sieh unsere Verwüstungen und die Stadt, die nach deinem Namen genannt ist! Denn nicht um unserer Gerechtigkeiten willen legen wir unser Flehen vor dir nieder, sondern um deiner vielen Erbarmungen willen. Herr, höre! Herr, vergib! Herr, merke auf und handle; zögere nicht, um deiner selbst willen, mein Gott! Denn deine Stadt und dein Volk sind nach deinem Namen genannt. Dan 9, 16–19
Als Daniel in dieser Weise betete, erschien Gabriel einmal mehr bei ihm (Dan 9, 21) – derselbe Bote, der später die Geburt des Erlösers in Bethlehem ankündigen sollte. Als Antwort auf Daniels Hingabe überbrachte er dem Propheten die grosse Vorhersage betreffend die siebzig Wochen.