Das Passah-Abendmahl
Die Frage, ob ein Zeugnis zuverlässig ist, wird nicht anhand des Wahrheitsgehaltes des Zeugnisses beantwortet; die Antwort hängt davon ab, ob das Zeugnis frei von Fehlern ist. Ein einziger augenfälliger Fehler kann genügen, um ein Zeugnis zu diskreditieren, das von höchstem Wert zu sein schien. Dieses Prinzip gilt besonders stark in Bezug auf die Glaubwürdigkeit der Evangelien, weshalb die Wichtigkeit der Frage, ob der Verrat in der Nacht des Passah-Abendmahls geschehen ist, nicht überschätzt werden kann. Wenn sich einer oder alle Evangelisten bezüglich einer so bestimmten und klaren Tatsache im Irrtum befunden haben, wie gemeinhin angenommen wird, hat es keinen Wert sich vorzumachen, dass ihre Schriften in irgendeiner Weise von Gott eingehaucht seienFussnote.
Das Zeugnis der ersten drei Evangelien ist übereinstimmend: Das letzte Abendmahl wurde während des jüdischen Passah gefeiert. Der Versuch zu beweisen, dass es sich um eine vorgängige Feier ohne das Passahopfer gehandelt habe, ist sinnlos, auch wenn er mit den besten Absichten unternommen wird. In Mt 26, 17 heisst es: Am ersten Tag der ungesäuerten Brote aber traten die Jünger zu Jesus und sprachen: Wo willst du, dass wir dir bereiten, das Passah zu essen?
Fussnote Das war kein Vorschlag des Herrn, sondern ein Vorschlag der Jünger, die sich im vollen Wissen um den Tag und die dazugehörenden Riten an ihren Meister wandten, um Anweisungen zu erhalten. Noch deutlicher ist Mk 14, 12, wo es heisst: Und am ersten Tag der ungesäuerten Brote, da man das Passah schlachtete, …
Wenn es überhaupt möglich wäre, wäre Lk 22, 7 sogar nochmals deutlicher: Es kam aber der Tag der ungesäuerten Brote, an dem das Passah geschlachtet werden musste
. Doch ebenso klar und eindeutig ist gesichert, dass die Kreuzigung gemäss dem Johannes-Evangelium an ebenjenem Tag statt fand. Teilweise wird sogar betont, dass sie in exakt jener Stunde erfolgte, als das Passah geopfert wurde. Viele bedeutende Autoren könnten zitiert werden, um diese Ansicht zu untermauern; die darüber geführte Diskussion wartet mit endlosen Argumenten zur Verteidigung auf. Aber kein Plädoyer für die Verteidigung könnte übertrieben sein; Namen könnten für einen Moment toleriert werden, wenn es um die Integrität der Heiligen Schrift geht; und ungeachtet der Gelehrsamkeit, die angewendet wurde, um zu beweisen, dass die Evangelien sich diesbezüglich in einer hoffnungslosen Abweichung voneinander befinden: Keiner, der gelernt hat, sie als göttliche Offenbarung zu schätzen, wird überrascht sein, wenn gesagt wird, dass die hauptsächliche Schwierigkeit allein darin besteht, dass man die jüdischen Anordnungen und das Gesetz Moses in einer voreingenommenen Weise ignoriert hat.
Alle Autoren vermischen das Passah-Abendmahl mit dem darauf folgenden Fest, von dem es seinen Namen hat. Das Abendmahl war eine Erinnerung an die Erlösung der Erstgeborenen Israels an der Nacht vor dem Exodus; das Fest war der Jahrestag der eigentlichen Befreiung aus dem Haus der Knechtschaft. Das Abendmahl bildete keinen Teil des Festes, sondern war moralisch gesehen das Fundament, auf das das Fest aufbaute – genauso, wie das Laubhüttenfest auf dem grossen Sündopfer des Versöhnungstages beruhte, der ihm voranging. In derselben Weise, in der das Fest der Wochen mit der Zeit als Pfingsten bezeichnet worden war, wurde auch das Fest der ungesäuerten Brote gemeinhin als Passah bezeichnetFussnote. Diesen Titel trugen sowohl das Abendmahl als auch das Fest; er umfasste beides. Aber ein intelligenter Jude würde die beiden Dinge nie durcheinander bringen, und wenn er mit Betonung vom Passah-Fest sprechen würde, würde er das Fest ohne das vorangehende Abendmahl meinenFussnote.
Kein Wort könnte diese Unterscheidung wohl deutlicher zum Ausdruck bringen als die abschliessende Verkündigung des Gesetzes: Und im ersten Monat, am vierzehnten Tag des Monats, ist das Passah dem Herrn. Und am fünfzehnten Tag dieses Monats ist das Fest
4. Mose 28, 16. 17.Fussnote
Wendet man sich im Licht dieser einfachen Erklärung dem Beginn des 13. Kapitels des Johannes-Evangeliums zu, verschwindet jede Schwierigkeit: Die Szene fand während des Passah-Abendmahls statt, vor dem Fest des Passah
Joh 13, 1. Nach der Erwähnung der Fusswaschung fährt der Evangelist fort, von dem eiligen Verschwinden von Judas zu erzählen, wobei er als Erklärung anfügt, dass einige der Jünger die Mahnung des Herrn an den Verräter als eine Aufforderung missverstanden hatten, zu kaufen, was wir für das Fest nötig haben
Joh 13, 29. Der Festtag war ein Sabbat, an dem Handel verboten war, und offenbar hätte der Bedarf für das Fest bis spät in der vorangehenden Nacht noch beschafft werden können, obwohl man in dieser Kontroverse häufig die falsche Annahme antrifft, dass der jüdische Tag immer ein «nukthameron»Fussnote gewesen sei, der am Abend begonnen habeFussnote.
Das war zwar zweifellos die allgemeine Regel, gerade in Bezug auf das Gesetz der zeremoniellen Waschung. Ausgerechnet diese Tatsache zeigt aber ohne jeden Zweifel, dass das Passah, weswegen sich die Juden weigerten, sich selbst durch das Betreten des Gerichtssaals zu verunreinigen, nicht das Passah-Abendmahl gewesen sein kann, da dieses Abendmahl erst gegessen wurde, als die Stunde, in der eine solche Verunreinigung beseitigt worden wäre, vergangen gewesen war. In der Sprache des Gesetzes: Und ist die Sonne untergegangen, so ist er rein; und danach darf er von den heiligen Dingen essen
3. Mose 22, 7. Anders verhielt es sich in Bezug auf die heiligen Opfergaben des Festtages, von denen notwendigerweise gegessen werden musste, bevor die Verunreinigung abgewaschen gewesen wäreFussnote. Die einzig verbleibende Frage ist folglich, ob die Teilnahme an den Friedensopfern des Festes als «das Passah essen» bezeichnet werden konnte. Das Gesetz Moses selbst gibt die Antwort: Und du sollst dem Herrn, deinem Gott, das Passah schlachten, Klein- und Rindvieh, … sieben Tage sollst du Ungesäuertes dazu essen
5. Mose 16, 2. 3; vgl. 2. Chron 35, 7. 8.
Wenn man die Worte von Johannes nur so verstehen kann und wenn nur diese Interpretation mit dem Zeugnis der andern drei Evangelisten übereinstimmt, fehlt nichts, um uns zu versichern, dass die Ereignisse des 18. Kapitels am Fest-Tag stattfanden. Wer noch mehr Bestätigung bracht, findet diese in den letzten Verse genau dieses Kapitels, denn gemäss dem erwähnten Brauch liess der Statthalter jeweils am Fest einen Gefangenen frei (Joh 18, 39; vgl. Mt 27, 15; Mk 15, 6 und Lk 23, 17). Die Pharisäer wollten den Herrn wegen Seiner Beliebtheit nicht am Fest-Tag ergreifen (Mt 26, 5; Mk 14, 1. 2) und waren deshalb darauf bedacht, seinen Verrat noch in der Nacht des Passah-Abendmahls herbeizuführen. So fügte es sich, dass die Anklage vor Pilatus während des Festes erfolgte, wie alle Evangelien bezeugen.
Aber hält Johannes nicht explizit fest, dass es der Rüsttag des Passah war, und muss das nicht bedeuten, dass dies am 14. Nisan geschah? Die simple Antwort ist, dass nicht eine einzige Passage aus den göttlichen oder menschlichen Schriften gefunden werden kann, in der dieser Tag so beschrieben würde, während bei den Juden «der Rüsttag» der gebräuchliche Name für den Tag vor dem Sabbat war; auch die Evangelien verwenden den Ausdruck mit dieser Bedeutung. Vor diesem Hintergrund zeigt ein Vergleich zwischen Joh 19, 14 und Joh 19, 31. 42 ganz klar, dass es der «Freitag des Passah» warFussnote.
Man führt aber noch eine andere Aussage aus dem Johannes-Evangelium ins Feld: Jener Sabbattag war ein hoher Tag
, was folglich bedeuten müsse, dass es sich um den 15. Nisan gehandelt habe. Dieses «folglich» übersieht aber, dass alle grossen Opfer, die dem 15. Nisan seine besondere Bedeutung gegeben haben, während des ganzen Festes täglich wiederholt wurden (4. Mose 28, 19–24)Fussnote. Nur schon deswegen war der Sabbat ein «hoher Tag». Davon abgesehen war er aber auch der Tag, an dem die Erstlingsfrüchte im Tempel dargebracht wurden. Bezüglich dieser Anordnung wie auch in Bezug auf die meisten anderen Punkte der unterschiedlichen Sichtweisen zwischen den Karaitischen Juden, die sich allein an die Schrift hielten, und den Rabbinischen Juden, die den Überlieferungen der Ältesten vertrauten, lagen letztere völlig falsch.
Das Gesetz verlangte, dass die Erstlingsgarben am nächsten Tag nach dem (Passah-) Sabbat
3. Mose 23, 10. 11 vom Priester vor dem Herrn gewoben werden mussten und dass von diesem Tag an sieben Wochen abgezählt werden mussten, die mit dem Pfingstfest endeten. Da die Wochen gemäss 5. Mose 16, 9 (vgl. 3. Mose 23, 15. 16) ausdrücklich vom ersten Tag der Ernte an abgezählt werden mussten, liegt es auf der Hand, dass der Tag nach dem Sabbat selbst kein Sabbat sein durfte, sondern ein Werktag sein musste. Der passende Tag der Anordnung war also der Tag der Auferstehung, der erste Tag der Woche
nach dem PassahFussnote, wenn gemäss dem Sinn des Gesetzes die Gerstenernte beginnen und die erste geerntete Garbe zum Heiligtum gebracht und ehrfürchtig vor dem Herrn gewoben werden sollte. Die Juden hatten allerdings diese Anweisung vergessen und stattdessen den in sich leeren Ritus eingeführt, im Tempel ein Mass eines Mahls dazubringen, das aus Getreide bereitet worden war, das – in Verletzung des göttlichen Gesetzes – schon Tage davor geerntet worden war. Dieser Ritus wurde stets am 16. Nisan durchgeführt. Dieser Tag konnte unter Berücksichtigung der Bedeutung des Passahfestes und des Sabbats tatsächlich nur ein «hoher Tag» seinFussnote.
Das Argument zum Beweis, dass der Tod Christi an jenem Tag eintrat, an dem das Passahlamm geschlachtet wurde, hat wegen der vermeintlichen Übereinstimmung zwischen Bild (Passah) und Wahrheit (Kreuzigung Christi) ein grosses Interesse und einen erdichteten Wert erlangt. Eine genauere Untersuchung dieses Themas unter Berücksichtigung einer breiteren Sicht auf die mosaischen Typen zerstreut aber die Kraft dieser Schlussfolgerung. Die Sonderlehre des Calvinismus basiert darauf, dass dem grossen Sündopfer gemäss 3. Mose ein exklusiver Platz eingeräumt wird, bei dem die Stellvertretung im entschiedensten und engsten Sinn essentiell ist. Das Passah ist dagegen schon immer der populärste Typus gewesen. Auch wenn andere typische Opfer in unseren führenden theologischen Schulen fast vollständig ignoriert werden, haben sie in der Schrift doch eine wesentliche Bedeutung. Die Opfer, die in 3. Mose zuerst genannt werden, nehmen in der Theologie des Hebräerbriefes einen wichtigen Platz ein, der als der «Leviticus» des Neuen Testaments bezeichnet werden könnte und in dem nicht ein einziges Mal Bezug auf das Passah genommen wirdFussnote. Genau diese OpferFussnote zeichneten den Fest-Tag aus (4. Mose 28, 17–24), an dem – gemäss den Evangelien – der Messias weggetan wurde
.
Andere Übereinstimmungen sind noch auffälliger und bedeutender. Während all Seines Dienstes auf Erden, auch wenn sich dieser durch Demütigung und Verwerfung ausgezeichnet hat, war nie eine Hand an den Gesegneten gelegt worden, es sei denn in aufdringlicher Unterwerfung oder in hingebungsvollem und liebendem Dienst. Doch in jenen Zeiten, in denen Seine Feinde Ihn ergreifen wollten, war die Rede von einer mysteriösen kommenden Stunde, in der ihrem Hass nicht mehr gewehrt werden sollte. Dies ist eure Stunde und die Gewalt der Finsternis
Lk 22, 53, rief Er aus, als Judas und seine pietätlosen Schuldgenossen Ihn im Garten umringten. Er sprach von Seiner Stunde, wenn er an seine Mission auf Erden dachte, und von ihrer Stunde, als er sich in Erfüllung dieser Mission in ihrem Griff wiederfand.
Die Leiden, die Ihm von Menschen zugefügt wurden, stehen im Christentum oft im Vordergrund, aber zusätzlich und in erster Linie besteht das Mysterium der Passion darin, dass Er von Gott verworfen und verflucht wurdeFussnote. In einer gewissen Weise waren Seine von Menschenhand zugefügten Leiden zwar auch eine Konsequenz davon, was Seine Antwort an Pilatus zeigt: Du hättest keinerlei Gewalt gegen mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre
Joh 19, 11. Die Menschen konnten Ihn nur ergreifen und hinrichten, weil Gott Ihn an sie übergeben hatte. Als diese bestimmte Stunde kam, zog sich die mächtige Hand zurück, die Ihn bis dahin vor Gewalttätigkeit geschützt hatte. Sein Tod war nicht der Beginn, sondern das Ende Seiner Leiden. In Wahrheit war das die Stunde Seines Triumphs.
Die mitternächtliche Qual in Gethsemane war als der grosse Antitypus zur mitternächtlichen Szene in Ägypten, als der Verwüster durch das Land ging. Sein Tod war die Erfüllung der Befreiung Seines Volkes, weshalb er am Jahrestag ebendieses Tages eintrat, an dem der Herr die Kinder Israel aus dem Land Ägypten heraus nach ihren Heeren
2. Mose 12, 51 geführt hatteFussnote.