Prinzipien der Interpretation
In seiner Abhandlung über die Geschichte der Prophetie (wie er es nannte) schrieb Lord Bacon: Dies ist eine Arbeit, die ich als unzulänglich erachte; sie muss entweder mit Weisheit, Nüchternheit und Ehrfurcht oder aber gar nicht getan werden. Die Natur dieser Arbeit sollte darin bestehen, dass jede Prophezeiung der Heiligen Schrift und jedes Ereignis der Erfüllung in dieselbe Reihenfolge gebracht werden, und zwar durch alle Zeitalter der Welt hindurch. Dadurch würde der Glaube gestärkt und die Kirche würde besser über jene Teile der Prophetie aufgeklärt, die noch nicht erfüllt sind. Dabei muss man allerdings berücksichtigen, dass den göttlichen Prophezeiungen gemeinhin ein gewisser Spielraum innewohnt, denn für ihren Autor sind tausend Jahre wie ein Tag, weshalb sich die Prophezeiungen nicht zwingend pünktlich auf einmal erfüllen müssen. Ihre Erfüllung kann sich vielmehr durch viele Zeitalter hindurch ziehen und entwickeln, um dann ihren Höhepunkt in einem bestimmten Zeitalter zu erreichen.
Wenn die vielen Schreiber, die seither dazu beigetragen haben, das von Lord Bacon bemerkte Erfordernis zu beachten, diesen weisen und gewichtigen Worten mehr Bedeutung beigemessen hätten, hätte sich die Studienrichtung der Prophetie möglicherweise einige Vorwürfe ersparen können, die daher stammen, dass die Studenten in feindliche Lager zerteilt sind. Für den Christen ist die Erfüllung einer Prophezeiung keine Frage einer Meinung oder von Tatsachen; vielmehr ist sie eine Sache des Glaubens. Wir haben also ein Recht zu erwarten, dass die Erfüllung definitiv und klar sein soll. Doch obwohl die Prinzipien und Maximen der Interpretation, die wir aus dem Studium jenes Teils der Prophetie ableiten können, der sich bereits in der Ära der Entstehung der Heiligen Schrift erfüllt hat, keinesfalls beiseite gelegt werden dürfen, wenn wir uns den post-apostolischen Zeiten zuwenden, dürfen wir sicherlich keinen Vorbehalt davor haben, in der Geschichte der vergangenen 18 Jahrhunderte versteckt eine erste und teilweise Erfüllung sogar jener Prophetien zu finden, die zweifellos erst in künftigen Tagen eine finale und komplette Erfüllung finden werden.
Aber lasst uns nicht die Weisheit, die Nüchternheit und die Ehrfurcht vergessen, die solche Untersuchungen benötigen. In unseren Tagen sind die Studenten der Prophetie zu Propheten geworden, und mit gemischter Verrücktheit haben sie versucht, das genaue Jahr von Christi Rückkehr auf die Erde zu berechnen – Vorhersagen, auf die vielleicht unsere Enkel zurückblicken werden, wenn noch ein weiteres Jahrhundert zur Geschichte des Christentums hinzugefügt werden sollteFussnote. Wenn solche Launen nur die jeweiligen Autoren in Misskredit gebracht hätte, wäre es nicht weiter schlimm. Doch obwohl diese Dinge in direktem Widerspruch zur Schrift thematisiert wurden, haben sie Ablehnung gegenüber der Heiligen Schrift selbst hervorgerufen und den heutigen munteren Skeptizismus stimuliert. Wir hätten gehofft, dass – abgesehen davon, was alles vergessen gegangen ist – die letzten Worte, die der Herr Jesus auf Erden gesprochen hat, nicht so beiseite gewischt würden: Es ist nicht eure Sache, Zeiten oder Zeitpunkte zu wissen, die der Vater in seine eigene Gewalt gesetzt hat
Apg 1, 7. Doch was den inspirierten Aposteln in den Tagen des unverfälschten Glaubens und der Macht verwehrt war, nehmen die Prophetengaukler der heutigen Zeit für sich in Anspruch – mit dem Resultat, dass die ernste und gesegnete Hoffnung auf die Rückkehr des Herrn auf dasselbe Niveau herabgesunken ist wie die Vorhersagen der Astrologen, zur Verwirrung und Trauer von gläubigen Herzen, zur Belustigung der Welt.
Jedermann, der ohne extravagante oder wirklichkeitsfremde Ansichten bezüglich der Geschichte und der Heiligen Schrift geltend macht, ein Ereignis in der Gegenwart oder in der Vergangenheit weise einen Bezug zu einer Prophezeiung auf, hat ein Anrecht darauf, dass man ihn ruhig und unvoreingenommen anhört. Er darf aber nicht vergessen, dass die Schriftstelle, auf die er sich bezieht, eine «keimende Erfüllung» haben kann, deren Höhe oder vollständige Erfüllung noch in der Zukunft liegen kann. Was auf die gesamte Schrift zutrifft, trifft ganz speziell auf die Prophetie zu. Wir sind gehalten, ihr eine Bedeutung zuzumessen, aber wer wirklich glaubt, dass sie göttlichen Ursprungs ist, wird sich hüten, die Bedeutung auf das Mass seines eigenen Verständnisses zu begrenzen.
Die Prophezeiungen betreffend den Antichristen stellen eine auffällige und äusserst treffende Veranschaulichung dieser Tatsache dar. Gäbe es nicht so viele Vorurteile, die durch extreme Aussagen geschaffen wurden, würden alle Studenten der Prophetie wohl zustimmen, dass der grosse Abfall des Christentums in vielerlei Hinsicht die Hauptzüge des Menschen der Sünde zeigt. Tatsächlich besteht heutzutage ein verfälschter Liberalismus, der uns dazu anhalten will, die Anklage aufzugeben, die die Geschichte gegen die Kirche von Rom vorbringt. Doch während kein grosszügiger Verstand sich weigern wird, den moralischen Wert jener anzuerkennen, die – zumindest in England – aktuell die Geschicke dieser Kirche führen, zielt die eigentliche Frage auf den Charakter nicht von Individuen, sondern des Systems ab.
Es zeugt deshalb nicht von einem intoleranten Fanatismus, sondern von wahrer Weisheit, wenn man in den Aufzeichnungen der Vergangenheit – wahrlich schrecklichen Aufzeichnungen – nach den Mitteln sucht, mit denen dieses System zu richten ist. Die Frage, die uns beschäftigt, ist nicht, ob es gute Menschen innerhalb des Einflussbereichs von Rom gibt – als ob alle moralischen Vorzüge auf Erden die Annalen der schrecklichen Schuld dieser Kirche zudecken könnten! Die wahre Frage ist, ob diese Kirche eine echte Veränderung in den heutigen erleuchteten Tagen erfahren hat. Wurde die Kirche von Rom reformiert? Mit welcher Vehemenz würde die Antwort von jeder Kanzel innerhalb ihres Einflussbereichs geschrien werden! Aber wenn nicht, dann müssen nur nochmals dunkle Tage kommen, damit einige der verdorbendsten Szenen und schwärzesten Verbrechen in der gesamten Geschichte des Christentums nochmals in Europa aufgeführt würden. Der wahre Test eines Menschen ist nicht, was er effektiv tut, sondern was er – gemäss den Prinzipien, denen er folgt – tun würde. Wenn man das von Individuen sagen kann, muss es umso mehr für Gemeinschaften gelten. Jene, die den wahren Charakter von Rom als den gegenwärtigen Prozess des Abfalls im öffentlichen Gedächtnis halten, tun also gut daran.
Doch wenn diese Schreiber weiter gehen und versichern, dass die Vorhersagen bezüglich des Antichristen ihre volle und finale Erfüllung im Papsttum fänden, wird ihre Position zu einer positiven Gefahr für die Wahrheit. Sie muss nämlich auf Kosten der Verwerfung von einigen der spezifischsten Prophezeiungen aufrecht erhalten werden und sie zwingt dazu, eine lasche oder phantasievolle Interpretation jener Schriftstellen vorzunehmen, auf die sie sich beruft.
Tatsächlich liegt das hauptsächliche praktische Übel eines solchen Interpretationssystems darin, dass es eine Gewohnheit schafft und unterhält, die Schriften in einer losen und oberflächlichen Art zu lesen. Generelle Eindrücke, die von einem summarischen Überblick über die Prophezeiungen stammen, werden systematisiert und als Grundlage für einen verfälschten Überbau herangezogen. Wie bereits bemerkt zeigt die Kirche von Rom die wesentlichen moralischen Züge des Mannes der Sünde. Aus diesem Grund gilt es in dieser Interpretationsschule als ein Axiom, dass das zehnhörnige Tier das Papsttum sei. Doch von diesem Tier heisst es: Und ihm wurde gegeben, mit den Heiligen Krieg zu führen und sie zu überwinden; und ihm wurde Gewalt gegeben über jeden Stamm und jedes Volk und jede Sprache und jede Nation. Und alle, die auf der Erde wohnen, werden es anbeten, jeder, dessen Name nicht geschrieben ist in dem Buch des Lebens des geschlachteten Lammes von Grundlegung der Welt an
Offb 13, 7. 8. Sind sich die Kommentatoren dessen bewusst, dass sich die eine Hälfte des Christentums ausserhalb des Einflussbereichs von Rom befindet und die Ansprüche des Papsttums ablehnt? Oder nehmen sie an, dass alle, die zur griechischen oder protestantischen Kirche gehören, im Buch des Lebens eingeschrieben sind? Keineswegs. Sie behaupten einfach, dass der Vers nicht das meint, was er sagtFussnote.
Nochmals: Das zehnhörnige Tier soll das Papsttum und das zweite Tier, der falsche Prophet, soll der päpstliche Klerus sein, während Babylon das päpstliche Rom sein soll. Aber wenn wir uns der Vision betreffend das Gericht über Babylon zuwenden, dann sehen wir, dass ihr Untergang durch das Tier besiegelt wird! Und die zehn Hörner, die du sahst, und das Tier, diese werden die Hure hassen (Babylon) und werden sie öde und nackt machen und werden ihr Fleisch fressen und sie mit Feuer verbrennen
Offb 17, 16; diese haben einen Sinn und geben ihre Macht und Gewalt dem Tier
Offb 17, 13. Die Regierungen des Christentums sollen also ihre Macht dem römischen Machthaber und der Priesterschaft geben, damit diese dann das römische Papsttum zerstören sollen!Fussnote Könnte eine Absurdität offensichtlicher und vollständiger sein?
Die hier zu diskutierende Frage darf nicht durch falsche Darstellungen vorverurteilt oder durch das Zuwenden zu nebensächlichen Punkten umschifft werden. Es geht nicht darum, ob grosse Krisen in der Geschichte des Christentums, wie etwa der Fall des Heidentums, der Aufstieg des Papsttums und der Macht des Islam oder die protestantische Reformation des 16. Jahrhunderts vom Blickfeld der Visionen des Johannes erfasst sind. Das kann vorerst beiseite gelassen werden. Es geht auch nicht darum, ob die Tatsache, dass die Chronologie von einigen dieser Ereignisse durch einen Zyklus von Jahren gekennzeichnet ist, der sich aus exakten Vielfachen der Zahl 70 im Buch Daniel und in der Offenbarung zusammensetzt, ein weiterer Beweis dafür ist, dass alles zu einem grossen Plan gehört. Jede neue Entdeckung dieser Art sollte von allen, die die Wahrheit lieben, herzlich willkommen werden. Statt das Vertrauen in die Exaktheit und Bestimmtheit der Prophezeiungen zu schwächen, sollte es den Glauben stärken, der ihre absolute und buchstäbliche Erfüllung erwartet. Die Frage ist nicht, ob die Geschichte des Christentums vom Blick des göttlichen Autors der Prophezeiungen erfasst war, sondern ob jene Prophezeiungen schon erfüllt wurden; nicht, ob jene Schriftstellen das Blickfeld und die Bedeutung haben, die ihnen von historischen Auslegern zugemessen wird, sondern ob ihr Blickfeld und ihre Bedeutung vollständig von den Ereignissen abgedeckt werden, die als deren Erfüllung betrachtet werden. Es ist deshalb unnötig, hier eine vollständig ausgearbeitete Kritik am historischen System der Interpretation zu verfassen, denn wenn es einen Test bezüglich eines vitalen Punktes nicht besteht, bricht es komplett in sich zusammen.
Gehört also die Offenbarung in die Sphäre der bereits erfüllten Prophezeiung? Oder, um die Kontroverse auf eine engere Thematik zu begrenzen, sind die Visionen von den Siegeln, den Posaunen und den Schalen bereits erfüllt worden? Niemand wird bestreiten können, dass es fair ist, so zu fragen, und dass die fairste Art ist, eine der entscheidenden Visionen wiederzugeben und dann vollständig und wortwörtlich anzuführen, was die historischen Ausleger als Interpretation dazu liefern. Die Öffnung des sechsten Siegels wird von Johannes so beschrieben:
Und ich sah, als es das sechste Siegel öffnete: Und es geschah ein grosses Erdbeben; und die Sonne wurde schwarz wie ein härener Sack, und der ganze Mond wurde wie Blut, und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde, wie ein Feigenbaum, geschüttelt von einem starken Wind, seine unreifen Feigen abwirft. Und der Himmel entwich wie eine Buchrolle, die zusammengerollt wird, und jeder Berg und jede Insel wurden von ihren Stellen gerückt. Und die Könige der Erde und die Grossen und die Obersten und die Reichen und die Starken und jeder Knecht und Freie verbargen sich in die Höhlen und in die Felsen der Berge; und sie sagen zu den Bergen und zu den Felsen: Fallt auf uns und verbergt uns vor dem Angesicht dessen, der auf dem Thron sitzt, und vor dem Zorn des Lammes; denn gekommen ist der grosse Tag seines Zorns, und wer vermag zu bestehen? Offb 6, 12–17
Diese Vision wird von Mr. Elliott folgendermassen kommentiert: Wenn wir bedenken, mit welchen Schrecken diese Christus-lästernden Könige des römischen Erdkreises mit ihren Partisanen vor dem christlichen Heer vertrieben wurden, unglücklich fliehend und vergehend, dann können wir sicherlich, der üblichen Konstruktion von solchen Bildern in der Heiligen Schrift, in diesem Ereignis die Antwort auf die Symbole der bildhaften Vision vor uns sehen, in der Könige und Generäle, Freie und Sklaven fliehend und in die Felshöhlen flüchtend gesehen werden, um ihr Gesicht vom Angesicht Dessen zu verbergen, der auf dem Thron der Macht sitzt, und vor dem Zorn des Lammes. Und so wurde der römische Erdkreis von den ersten Wellen dieses grossen Erdbebens in Bewegung gesetzt, durch die die Feinde der Christen zerstört oder in die Flucht geschlagen wurden. So hat sich in den politischen Himmeln die Sonne der heidnischen Vorherrschaft verdunkelt; der Mond wurde verschleiert und blutrot, und nicht wenige von den Sternen wurden gewaltsam auf den Grund geschüttelt. Doch die Prophezeiung hatte damit noch nicht ihre vollständige Erfüllung gefunden. Die Sterne des heidnischen Himmels waren noch nicht alle gefallen, und auch der Himmel selbst wurde noch nicht wie eine Buchrolle aufgerollt, um dann zu verschwinden. Nach Konstantins erstem Sieg und nach den ersten Schrecken der gegnerischen Herrscher und ihrer Armeen wurde zwar der Christenheit mit einem imperialen Edikt volle Rechte und Freiheit gewährt, aber der heidnische Götzendienst wurde weiterhin frei toleriert. Doch bald darauf folgten Massnahmen, mit denen den Christen und ihrem Glauben bei imperialen Anordnungen eine klare Bevorzugung gewährt wurde. Schliesslich, als Konstantin älter wurde, erliess er trotz des Widerstandes der Heiden weitere Edikte zur Unterdrückung ihrer Götzenopfer, zur Zerstörung ihrer Tempel und zum Verbot jedes anderen öffentlichen als des christlichen Gottesdienstes. Seine Nachfolger auf dem Thron verfolgten dasselbe Ziel, indem sie schwerste Strafen für die öffentliche Bekennung des Heidentums auferlegten. Als Folge davon waren alle Sterne zu Boden gefallen, noch bevor das Jahrhundert geendet hatte; der Himmel selbst beziehungsweise das politische und religiöse System, verschwand und auf der Erde wurden alle alten heidnischen Institutionen, Gesetze, Riten und Götzendienste annihiliertFussnote.
Ein augenfälligeres Beispiel einer falschen Interpretation ist kaum denkbarFussnote. Wen wundert es, wenn die Menschen über die schrecklichen Warnungen des kommenden Zorns spotten, wenn ihnen gesagt wird, dass der grosse Tag Seines ZornsFussnote bereits stattgefunden habe und dass er sich darauf beschränkt habe, dass die heidnischen Heere vor dem Heer Konstantins geflohen seien – ein Ereignis, das so oder ähnlich schon tausendmal in der Weltgeschichte stattgefunden hat?Fussnote
Denn wir wollen den entscheidenden Punkt hier klar im Auge behalten: Wenn die Herrschaft Konstantins oder eine andere Ära in der Geschichte der Christenheit als eine vorübergehende Erfüllung der Vision anerkannt würden, dann könnte man das noch als eine schwache, aber harmlose Auslegung abtun. Aber diese Ausleger massen sich an zu behaupten, dass die Prophezeiung keinen weiteren Bereich und keine andere Bedeutung habeFussnote. Deshalb sind sie verpflichtet zu beweisen, dass sich die Vision des sechsten Siegels erfüllt hat; denn andernfalls ist es offensichtlich, dass alles Nachfolgende auch für sich in Anspruch nehmen könnte, die Erfüllung zu sein. Wenn folglich dieses System nur an diesem Punkt scheitert, dann würde sein Scheitern absolut und komplett sein. Tatsächlich ist das oben zitierte Beispiel aber nicht mehr als ein fair ausgewähltes Beispiel für die Art und Weise, in der sie den Sinn jener Worte verschleiern, die zu erklären sie vorgeben.
Sie erzählen uns, dass wir uns nun in der Ära der Schalen befänden. Zur jetzigen Stunde soll der Zorn Gottes auf die Erde ausgeschüttet werdenFussnote. Gewiss könnten Menschen gut ausrufen (wenn man die Gegenwart mit der Vergangenheit vergleicht und dieses Zeitalter als bevorzugter und wünschenswerter zum Leben als jedes andere vorangegangene Zeitalter beurteilt), ob das denn alles sei, was der Zorn Gottes mit sich bringe! Die Schalen enthalten die sieben letzten Plagen, denn in ihnen ist der Grimm Gottes vollendet
Offb 15, 1, und man erzählt uns, dass das Ausgiessen der sechsten Schale gerade jetzt erfüllt werde, und zwar durch die Zerrüttung des türkischen Imperiums! Kann ein Mensch so verloren im Traumland seiner eigenen Gedankenwelt sein sich vorzustellen, dass der Zusammenbruch des türkischen Imperiums ein göttliches Gericht über einer unbussfertigen Welt sei!Fussnote So mag es zwar dem Club der Paschas vorkommen, die sich in der Art und Weise von Leichenfledderern am Elend um sich herum ergötzen, aber unzählbare Millionen würden es als ein Segen für eine leidende Menschheit begrüssen und sich mit Erstaunen fragen, wie denn einfache Seelen zwischen den Beweisen Seiner Güte und Seines schlimmsten Zorns unterscheiden sollen, wenn dies die Krönung des göttlichen Zorns sein soll!
Wenn man das Ereignis als eine erste Erfüllung einer Prophezeiung in dieser Zeit der Gnade bezeichnen würde, die sich eindeutig auf den kommenden Tag des Zorns bezieht, dann würde man wohl respektvolle Aufmerksamkeit erhalten; aber die Behauptung, dass die Auflösung der Türkei die volle Erfüllung der Vision sei, ist die läppischste Schindluderei mit der ernsten Sprache der Heiligen Schrift und ein Frevel am gesunden Menschenverstand.
Doch dieses System der Interpretation beinhaltet Prinzipien, die weit tiefgründiger und schlagkräftiger als jene sind, die an der Oberfläche erscheinen. Es handelt sich nämlich um einen direkten Widerspruch zur grossen fundamentalen Wahrheit der Christenheit. Im Lukas-Evangelium wird berichtet, wie der Herr nach der Versuchung in der Kraft des Heiligen Geistes nach Galiläa zurückgekehrt ist und die Synagoge von Nazareth am Sabbat betreten hat, wo Er – Seiner Gewohnheit folgend – aufstand, um zu lesen. Man händigte Ihm das Buch von Jesajas Prophezeiung aus und Er las – alle Augen auf Ihn gerichtet – die folgenden Worte: Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, Armen gute Botschaft zu verkündigen; er hat mich gesandt, Gefangenen Befreiung auszurufen und Blinden das Augenlicht, Zerschlagene in Freiheit hinzusenden, auszurufen das angenehme Jahr des Herrn
Lk 4, 18. 19. Die ohne Unterbruch folgenden Worte auf der offen vor Ihm liegenden Seite lauteten: und den Tag der Rache unseres Gottes
Jes 61, 2, aber im Bericht von Lukas heisst es: Und als er das Buch zugerollt hatte, gab er es dem Diener zurück und setzte sich
Lk 4, 20. In einem kommenden Zeitalter, wenn die Prophezeiung ihre vollständige Erfüllung finden wird, wird sich der Tag der Rache mit dem Segen für Sein Volk vermischenFussnote. Aber die Bürde Seines Dienstes auf Erden war nur FriedenFussnote. Und das ist noch immer die Bürde des Evangeliums. Gottes Haltung gegenüber den Menschen ist Gnade. Gnade regiert
. Nicht, dass es Gnade für die Bussfertigen oder für die Erwählten gäbe, sondern Gnade ist das Prinzip, nach dem Christus jetzt auf dem Thron Gottes sitzt. Auf Seinem Haupt sind viele Kronen, aber Seine durchbohrten Hände halten das einzige Szepter, denn der Vater hat Ihm das Königtum gegeben, alle Macht ist Sein im Himmel und auf Erden. Denn der Vater richtet auch niemand, sondern das ganze Gericht hat er dem Sohn gegeben
Joh 5, 22; vgl. Joh 3, 17; Joh 12, 47, aber Seine Mission auf Erden war nicht zu richten, sondern nur zu retten. Und Er, der der einzige Richter ist, ist nun erhoben worden, ein Retter zu sein, und der Thron, auf dem Er sitzt, ist ein Thron der Gnade. Gnade regiert durch Gerechtigkeit zum ewigen Leben (Röm 5, 21). Das Licht dieses glorreichen Evangeliums scheint nun ungehindert auf die Erde. Blinde Augen mögen sich davor verschliessen, aber sie können es weder ausmachen noch mindern. Unbussfertige Herzen mögen Zorn auf den Tag des Zorns hin anhäufen, aber sie können diesen Tag der Gnade weder verdunkeln noch die Herrlichkeit der Herrschaft der Gnade beeinträchtigen
Fussnote.
Erst am Tag des Zorns werden die sieben letzten Plagen, in denen der Grimm Gottes vollendet ist, über die Erde kommen. Wer behauptet, dass jetzt die Zeit dieser Plagen sei, treibt nur Spass mit ernsten und schrecklichen Wahrheiten. Welche zwischenzeitliche Erfüllung die Vision jetzt auch finden mag, die volle und finale Realisierung gehört in die Zukunft.
Diese Seiten hier sind nicht dazu gedacht, sich mit der primären und historischen Erfüllung der Prophezeiungen beziehungsweise, wie Lord Bacon es nennt, mit ihrer keimenden und aufgehenden Erfüllung durch die vielen Zeitalter hindurch zu befassen. Mein Thema ist ausschliesslich die absolute und finale Erfüllung der Visionen in jenem einen Zeitalter, zu dem sie in ihrer Höhe und Vollheit gehören.
Die Schrift selbst weist viele auffällige Beispiele solcher zwischenzeitlicher oder primärer Erfüllung auf, in denen die Hauptzüge der Prophezeiung, aber nicht die ganze Prophezeiung in all ihren Details erfüllt werden. Die Vorhersage von Elias Kommen ist ein BeispielFussnote. Der Herr selbst hat in den deutlichsten Worten erklärt, dass der Dienst von Johannes dem Täufer im Bereich dieser Prophezeiung liege. Mit ebenso deutlichen Worten hat Er angekündigt, dass sie in künftigen Tagen erfüllt würde, und zwar durch die Wiederkunft des grössten Propheten auf der Erde (Mt 11, 14; Mt 17, 11. 12). Die Worte von Petrus an Pfingsten stellen eine andere Illustration dar. Die Prophezeiung von Joel wird noch bis zum letzten Buchstaben erfüllt werden, aber doch hat der inspirierte Apostel bezüglich der Taufe in den Heiligen Geist Bezug darauf genommen (Joel 2, 28–32; Apg 2, 16–21).
Von der Erfüllung dieser Prophezeiungen zu sprechen, als wäre sie bereits geschehen, ist unbiblisch und falsch gesprochen. Noch viel ungerechtfertigter ist die Versicherung von endgültiger Erfüllung, wie sie bezüglich der sich auf den Abfall beziehenden Prophezeiungen so selbstsicher vorgebracht wird. Es gibt nicht eine einzige Prophezeiung, von der die Erfüllung in der Schrift aufgezeichnet wäre, die nicht mit absoluter Präzision und bis in jedes Detail realisiert wurde. Es ist komplett ungerechtfertigt anzunehmen, dass ein neues System von Erfüllung eingeführt worden wäre, nachdem der Kanon abgeschlossen worden ist.
Wer hätte vor zweitausend Jahren gedacht, dass die Prophezeiungen über den Messias eine buchstäbliche Erfüllung finden würden! Siehe, die Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären
Jes 7, 14; frohlocke laut, Tochter Zion; jauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König wird zu dir kommen: Gerecht und ein Retter ist er, demütig und auf einem Esel reitend, und zwar auf einem Fohlen, einem Jungen der Eselin
Sach 9, 9; und ich sprach zu ihnen: Wenn es gut ist in euren Augen, so gebt mir meinen Lohn, wenn aber nicht, so lasst es; und sie wogen meinen Lohn ab: dreissig Sekel Silber. Da sprach der Herr zu mir: Wirf ihn dem Töpfer hin, den herrlichen Preis, dessen ich von ihnen wert geachtet bin! Und ich nahm die dreissig Sekel Silber und warf sie in das Haus des Herrn, dem Töpfer hin
Sach 11, 12. 13; vgl. Mt 27, 5. 7; sie teilen meine Kleider unter sich, und über mein Gewand werfen sie das Los
Ps 22, 19; vgl. Joh 19, 23. 24; sie haben meine Hände und meine Füsse durchgraben
Ps 22, 16; in meinem Durst gaben sie mir Essig zu trinken
Ps 69, 22; denn er wurde abgeschnitten aus dem Land der Lebendigen: Wegen der Übertretung meines Volkes hat ihn Strafe getroffen
Jes 53, 8.
Sogar für die Propheten selbst war die Bedeutung dieser Worte ein Geheimnis (1. Petr 1, 10–12). Zweifellos haben die meisten Menschen diese Aussprüche bloss als Poesie oder Legenden abgetan. Und doch haben diese Prophezeiungen über das Kommen und Sterben des Christus ihre vollständige Erfüllung gefunden, und zwar bis hin zum letzten Iota und Tittelchen. Die buchstäbliche Erfüllung kann folglich als ein Axiom angesehen werden, das uns im Studium der Prophezeiungen leiten kann.