Jesus Christus ist der Herr! Phil 2, 11

Der Christ und das Gesetz

Der Herr Jesus hat gesagt: 17 Denkt nicht, dass ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen. 18 Denn wahrlich, ich sage euch: Bis der Himmel und die Erde vergehen, soll auch nicht ein Jota oder ein Strichlein von dem Gesetz vergehen Mt 5, 17. 18. Weshalb aber lassen sich denn Christen nicht beschneiden (3. Mose 12, 3)? Weshalb halten sie nicht den Sabbat (2. Mose 20, 8)? Weshalb beten sie ausserhalb von Jerusalem an (5. Mose 12, 5 und 2. Chron 3, 1)? Weshalb fürchtete der Apostel Paulus, vergeblich an den Galatern gearbeitet zu haben, weil sie (gesetzlich vorgeschriebene) Tage und Monate und Zeiten und Jahre Gal 4, 10. 11 beachteten? Weshalb schrieb er den Galatern: 2 Siehe, ich, Paulus, sage euch, dass, wenn ihr beschnitten werdet, Christus euch nichts nützen wird Gal 5, 2? Wie passt das alles zusammen? Gilt nun das Gesetz für uns oder nicht?

Schwierige Fragen wie diese können wir nur beantworten, wenn wir uns bedingungslos und vorbehaltlos unter die Heilige Schrift, unter das Wort Gottes, unter die Bibel beugen. Wenn wir unser Herz auch nur gegenüber einem Wort der Bibel verschliessen, wenn wir auch nur eine Sekunde eine Brille einer menschlichen Meinung aufsetzen, wenn uns auch nur ein Prozent der vollen Bereitschaft fehlt, alles loszulassen, was sich mit dem Heiligen Wort Gottes nicht in Übereinstimmung bringen lässt, dann müssen wir unweigerlich straucheln oder fallen. Wir müssen uns bei der Auslegung der Bibel vom Motto leiten lassen: Gott aber sei wahrhaftig, jeder Mensch aber Lügner Röm 3, 4. Die Philosophie oder die Überlieferung der Menschen wird uns gefangen wegführen (Kol 2, 8). Unsere Verkündigung muss sein nicht in Worten, gelehrt durch menschliche Weisheit, sondern in Worten, gelehrt durch den Geist, mitteilend geistliche Dinge durch geistliche Mittel 1. Kor 2, 13. Eine notwendige Folge einer solchen Haltung ist die unerschütterliche Grundannahme, dass die Bibel nicht einen Widerspruch enthält. Würde nämlich ein Wort dem andern widersprechen, könnten nicht beide gleichzeitig absolut wahr sein, was aber bedeuten würde, dass eines davon nicht Gottes Wort wäre. Dann könnten wir die Bibel sofort schliessen und uns der tiefsten Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit hingeben. Aber Gott sei Dank! Das ist nicht der Fall, denn 16 alle Schrift ist von Gott eingegeben 2. Tim 3, 16.

Wenn wir vom Gesetz sprechen, dann meinen wir jene Vorschriften, die wir hauptsächlich im zweiten, dritten und vierten Buch Mose finden. Wer sich mit diesem Gesetz beschäftigt, wird sofort feststellen, dass es sich an Israel richtet. Es ist Gottes Gesetz für Sein Volk Israel. Als der Herr Seinem Volk dieses Gesetz gab, blieben die übrigen Völker davon unberührt. Bis heute sind die anderen Nationen ihrem Gewissen und nicht diesem Gesetz verpflichtet (vgl. Röm 2, 15). Sie stehen nach wie vor unter dem Bund, den der Herr bereits viel früher mit Noah geschlossen hatte. Das Gesetz ist für einen Nicht-Israeliten also nicht bindend. Es kann ewig weiter gelten, aber ein Nicht-Israelit bleibt auf ewig davon unberührt. Wenn wir also sagen, dass das Gesetz für Nicht-Israeliten nicht bindend sei, sagen wir damit nichts über die Weitergeltung des Gesetzes aus, denn das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.

Doch wie steht es mit einem Israeliten, der zum lebendigen Glauben an den Herrn Jesus kommt? Bleibt er ein Israelit – und damit dem Gesetz verpflichtet – oder wird er vom Joch des Gesetzes befreit? Diese Frage wird in Röm  7 ganz eindeutig beantwortet: 4 Also seid auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz getötet worden durch den Leib des Christus, um eines anderen zu werden, des aus den Toten Auferweckten, damit wir Gott Frucht brächten Röm 7, 4. Die Argumentation lautet zusammengefasst wie folgt: Die Lebenden (die Israeliten) unterstehen dem Gesetz, solange sie leben. Wenn sie sterben, werden sie vom Joch des Gesetzes befreit. Wer zum Glauben an den Herrn Jesus kommt, stirbt mit dem Herrn Jesus und erhält das neue Auferstehungsleben des Herrn Jesus (vgl. Röm  6). Als Israelit ist er damit dem Gesetz gestorben. Er gehört nun «einem anderen», nämlich dem Herrn Jesus. Dieselbe Belehrung finden wir in 2. Kor 5, 17, wo es heisst, dass ein Bekehrter (ob Israelit oder nicht) eine komplett neue Schöpfung sei. Eine solche neue Schöpfung hat kein irdisches Bürgerrecht mehr, sondern ein neues, himmlisches (Phil 3, 20). Die Nationalität wird mit der Bekehrung also sozusagen ausradiert. Bei einem Christen spielt es folglich keine Rolle, ob er beschnitten gewesen ist oder nicht (Gal  6, 15). Die ab und zu anzutreffende Bezeichnung «messianische Juden» erweist sich damit als schriftwidrig, denn in Christo gibt es weder Jude noch Grieche (Gal 3, 28). Wenn ein Israelit zu einem Christ wird, ist also auch er nicht mehr ans Gesetz gebunden.

Damit lässt sich zusammenfassend sagen: Die Frage nach der ewigen Weitergeltung des Gesetzes für Israel hat keinen Bezug zur Frage, ob ein – ehemals israelitischer oder ehemals nicht israelitischer – Christ sich an das Gesetz halten muss. Selbst wenn alle Christen das Gesetz komplett ignorieren würden, würde es dadurch nicht aufgehoben, weil es sich nicht an Christen, sondern an Israeliten wendet. Nur wenn Gott die Israeliten vom Joch des Gesetzes befreien würde, würde Er Sein eigenes Wort in Mt 5, 17. 18 ungültig machen.

Weshalb enthält nun aber unsere Bibel das Gesetz für Israel? Sie beschränkt sich doch nur auf das Allernotwendigste (vgl. Joh 20, 30. 31; Joh 21, 25) und enthält nur das, was wir benötigen, um zu jedem guten Werk völlig geschickt 2. Tim 3, 17 zu sein. In 2. Tim 3, 16. 17 heisst es: 16 Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, 17 damit der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werk völlig geschickt. Das bedeutet, dass wir ausser der Bibel gar nichts benötigen, um vollkommen und zu jedem guten Werk völlig geschickt zu sein. Es bedeutet aber auch, dass wir alles, was in der Bibel steht – alle Schrift – benötigen, um dieses Ziel zu erreichen. Es ist also ausgeschlossen, dass die Bibel etwas Überflüssiges enthält. Deshalb muss das Gesetz auch uns Christen etwas zu sagen haben.

Eine mögliche Erklärung wäre, dass ein Christ so etwas wie ein «geistlicher Israelit» und deshalb verpflichtet sei, das Gesetz zu halten. Diese Erklärung scheitert aber an Röm 6 und 7, wo ausführlich dargelegt wird, dass sogar ein echter Israelit in den Augen Gottes aufhört, ein Israelit zu sein, sobald er sich bekehrt. Wenn Christen «geistliche Israeliten» wären, wären die Belehrungen in Röm  7 sinnlos und überflüssig, weil sich für den Israeliten ja in Bezug auf das Gesetz mit seiner Bekehrung nichts ändern würde. Die Bibel enthält aber keine überflüssigen Ausführungen. Zudem müssten wir an jener Stelle oder zumindest woanders in der Bibel die klare Aussage finden, dass ein Nicht-Israelit durch seine Bekehrung zu einem (geistlichen) Israeliten würde. So eine Stelle existiert nicht. Im Gegenteil: In Gal 4, 10. 11 heisst es, dass die Arbeit des Apostels Paulus vergeblich gewesen wäre, wenn die Galater das Gesetz beachtet hätten. In Gal 5, 2 heisst es sogar, dass Christus den Galatern nichts nützen würde, wenn sie sich beschneiden lassen würden. Die Beschneidung ist aber das äusserliche Merkmal eines Israeliten, eines Adressaten des israelitischen Gesetzes. Also ist die Auffassung, dass Christen «geistliche Israeliten» und damit dem Gesetz für Israel unterstellt seien, eindeutig schriftwidrig.

Es muss folglich eine andere Erklärung dafür geben, dass das Gesetz für Israel in der Bibel der Christen enthalten ist. Diese Erklärung muss in der Bibel selbst zu finden sein, da wir sie sonst wie jede andere menschliche Erklärung auch als haltlos verwerfen müssten. Tatsächlich gibt es eine solche Erklärung: 4 Denn alles, was zuvor geschrieben worden ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben Röm 15, 4. Aha! Das Gesetz soll also nicht unser Verhalten lenken (weil wir keine Israeliten und deshalb auch keine Adressaten des Gesetzes sind), sondern uns belehren. Doch jede Sache wird durch zwei oder drei Zeugen bestätigt (2. Kor 13, 1). Deshalb wollen wir uns vielleicht nicht von einem Schriftwort allein überzeugen lassen. Nun, in Gal  3, 24 wird das Gesetz unser Erzieher genannt. Andere Übersetzungen lesen Zuchtmeister, aber das ist dasselbe. Mit dem Gesetz will der Herr uns also eine Lektion erteilen. Aber was ist das für eine Lektion?

Die Schrift sagt dazu: Durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde Röm 3, 20. Das Gesetz (oder das Halten des Gesetzes; dazu aber unten mehr) macht uns nicht zu besseren Menschen, nicht vollkommen, zu jedem guten Werk völlig geschickt. Es bringt uns nicht von einem (unvollkommenen) Ist- zu einem (vollkommenen) Soll-Zustand. Es verändert uns nicht. Es deckt nur auf; es lässt uns die Sünde erkennen. Diese Aussage ist vielleicht besser verständlich, wenn wir ihr eine zweite zur Seite stellen: Die Sünde hätte ich nicht erkannt als nur durch Gesetz. Denn auch von der Begierde hätte ich nichts gewusst, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: Du sollst nicht begehren Röm 7, 7. Alle Menschen können zwar anhand ihres Gewissens grundlegend zwischen Gut und Böse, zwischen Richtig und Falsch unterscheiden (vgl. Röm 2, 15), aber das Gewissen ist kein zuverlässiger Wegweiser, kein vollkommener Erzieher. Es kann abgestumpft oder fehlgeleitet sein und dadurch in die Irre führen. Doch das Gesetz ist von oben gegeben, völlig unparteiisch, absolut objektiv und – als Teil des Wortes Gottes – lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und durchdringend bis zur Scheidung von Seele und Geist, sowohl der Gelenke als auch des Markes, und ein Beurteiler der Gedanken und Überlegungen des Herzens Hebr 4, 12. Das Gesetz deckt also völlig zuverlässig auf, was Begierde und Sünde ist. Wenn wir im Gesetz lesen, dass verschiedene Formen von Unzucht und Hurerei Sünde sind, dann erkennen wir, dass wir etwas begehrt haben, das nicht gottgemäss ist. So beurteilt das Gesetz unsere Gedanken und Überlegungen und lässt uns erkennen, was Sünde ist. Durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde Röm 3, 20. Denselben Gedanken finden wir auch im Brief des Jakobus, in Kapitel 1, Verse 23–25. Dort wird das Wort Gottes einem Spiegel verglichen, in dem ein Mensch sieht, wie er beschaffen ist. Das Gesetz verändert also nicht den Menschen, sondern zeigt ihm auf, wie er ist. Und wie ist der Mensch? Er ist fähig, alle Unreinheit mit Gier auszuüben Eph 4, 19. Er begehrt jene Dinge, die Gott in Seinem Gesetz als Sünde bezeichnet. Ihn gelüstet nach jenen Dingen, die Gott ein Greuel sind. Er ist zu allem fähig, ausser zu einem gottgemässen Wandel. Das ist die Belehrung des Gesetzes.

Doch das Gesetz zeigt auch, was Gott ist. Es enthält zwar nicht die volle Offenbarung des Wesens Gottes, denn diese finden wir nur im Herrn Jesus Christus (Joh 14, 9; Hebr 1, 2), 9 denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig Kol 2, 9. Doch das Gesetz belehrt uns zunächst darüber, dass Gott ein gerechter Richter ist; Gerechtigkeit und Gericht sind die Grundfeste seines Thrones Ps 97, 2. Das Gesetz zeigt uns, dass Er ohne Ansehen der Person jeder einzelnen Verfehlung genau nachgeht, alle Umstände würdigt und dann ein absolut gerechtes Urteil spricht. Das Gesetz stellt Ihn uns als einen unparteiischen und unbestechlichen Richter vor. Es zeigt aber auch, dass Er heilig ist, zu rein von Augen, um Böses zu sehen Hab 1, 13. Viele Vorschriften des Gesetzes zielen auf eine Unterscheidung zwischen reinen und und unreinen Dingen ab. Das Gesetz warnt an verschiedenen Stellen vor einer Vermischung von reinen und unreinen Dingen. Das zeigt, dass in Gottes Nähe nur bestehen kann, was absolut rein und heilig, für Ihn abgesondert, von allem Unreinen getrennt ist.

Doch das Gesetz zeigt noch mehr. Von der Zeit Moses bis zum Auftreten Johannes’ des Täufers (vgl. Lk 16, 16) sind nach der göttlichen Anordnung Millionen von Litern tierischen Blutes vergossen worden. Auf dem Brandopferaltar brannte ein unauslöschliches Feuer, der Hohepriester trug beständig die Namen der zwölf Stämme Israels auf seiner Schulter und auf seinem Herzen, die wöchentlich erneuerten Schaubrote wurden beständig von einem göttlichen Licht erleuchtet und unzählige andere Vorschriften sprachen unablässig davon, dass der HERR bereits Sein irdisches Volk in Gnade trug und ertragen konnte, weil Sein Blick beständig von den Verfehlungen des Volkes weg hin zum Kreuz gerichtet war, von dem so viele gesetzliche Anordnungen einen Schatten warfen. Den Israeliten wurde damit Tag für Tag vor Augen geführt, dass nicht ihre, sondern nur Gottes Gerechtigkeit dafür sorgen konnte, dass Er unter ihnen wohnen konnte, ohne sie vernichten zu müssen. So ist das Gesetz also – vor allem heute, rückblickend und vom Kreuz aus betrachtet – voller Belehrungen darüber, was der Herr Jesus für den Vater in den Himmeln sein muss. Das Gesetz muss uns unweigerlich in die Anbetung dessen führen, der bei Sich selbst beschlossen hat, sich den Menschen in Gnade und Barmherzigkeit zuzuwenden, ohne auch nur ein Haarbreit Seiner Gerechtigkeit oder Seiner Heiligkeit preiszugeben. Doch diese Gedanken können wir hier nicht weiter vertiefen, da sie zu weit weg vom Kernthema führen würden. Nur Eines soll nicht unerwähnt bleiben: Das vom Heiligen Geist erleuchtete Auge findet auf jeder einzelnen Seite der Bibel Hinweise auf den Herrn Jesus, der von Ewigkeit her und bis in alle Ewigkeit hin die Freude und Wonne Seines und unseres Vaters in den Himmeln ist. Nur mit dem Blick auf Ihn können wir die gesetzlichen Anordnungen verstehen, wie sie wirklich gemeint sind.

Das führt uns aber zum letzten und meines Erachtens wichtigsten Punkt im Zusammenhang mit der Frage nach der Haltung eines Christen zum israelitischen Gesetz. Der Herr Jesus stellte bei mehreren Gelegenheiten klar, dass das Gesetz nur ein schwaches Abbild davon ist, was Gott ist und was der Mensch sein sollte. Das Gesetz verbot beispielsweise den (vollzogenen) Ehebruch. Der Herr Jesus machte deutlich, dass an sich nicht nur der vollzogene Ehebruch, sondern bereits schon der Gedanke daran Sünde sei (vgl. Mt 5, 27–32). Das Gesetz verbot Mord und Totschlag. Der Herr Jesus sagte aber, dass es schon Sünde sei, einem Nächsten Namen auszuteilen (vgl. Mt 5, 21–26). Das Gesetz erlaubte es einem Ehemann, seine Ehefrau mit einem Scheidebrief zu entlassen. Der Herr Jesus stellte klar, dass Gott eine Ehescheidung hasst (vgl. Mt 19, 3–9). In diesem Zusammenhang machte Er eine interessante und sehr wichtige Aussage: Mose hat euch wegen eurer Herzenshärte gestattet, eure Frauen zu entlassen Mt 19, 8. Damit hat Er deutlich darauf hingewiesen, dass das Gesetz nur eine Minimalanforderung für ein gottgemässes Leben ist. Anders ausgedrückt hat Gott im Gesetz nur das verlangt, was Ihm ein hartherziger Mensch geben konnte. Der Umstand, dass niemand in der Lage gewesen ist, selbst diese Minimalanforderungen zu erfüllen, ist äusserst beschämend für uns. Wir sehen uns genötigt, mit dem Apostel Paulus bezugnehmend auf zwei identische Stellen in den Psalmen (Ps 14, 3; Ps 53, 4) auszurufen: Da ist kein Gerechter, auch nicht einer Röm 3, 10.

Wenn der Herr nicht der Herzenshärte des Menschen hätte Rechnung tragen müssen, dann hätte Er ein moralisch weit erhabeneres Gesetz gegeben. Deshalb sagte der Herr Jesus auch nicht etwa, dass das Gesetz nun völlig unbeachtlich geworden wäre, sondern vielmehr: Wenn eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht bei weitem übersteigt, werdet ihr nicht in das Reich der Himmel eingehen Mt 5, 20. Die Pharisäer waren, obwohl sie die wesentlichen Dinge des Gesetzes nicht erkannt hatten (vgl. Mt 23, 23), die gesetzestreuesten Israeliten. Wenn es nur nach dem Buchstaben ginge, hätte der Herr Jesus sagen müssen, dass unsere Gerechtigkeit noch etwas besser als deren Gerechtigkeit sein müsse, weil wir dann das Gesetz dem Buchstaben nach halten könnten. Er sagte aber, dass der eigentliche – richtige – Massstab weit höher ist. Sinngemäss bedeutet das, dass wir uns nicht mit dem niedrigen Gesetz aufhalten, sondern nach der Erfüllung des höheren, wahrlich gottgemässen Massstabes streben sollten. Wir sollen uns also nicht nur vor vollzogenem Ehebruch hüten, sondern jeden Gedanken gefangen nehmen unter den Gehorsam des Christus 2. Kor 10, 5. Wir sollen uns nicht nur vor Mord und Totschlag hüten, sondern sogar unsere Feinde lieben und für jene beten, die uns verfolgen (Mt 5, 44). Wir sollen nicht einmal einen Gedanken an eine Scheidung verschwenden. Wir sollen Gott nicht nur einen Zehntel unseres Vermögens, sondern alles geben (vgl. Mk 12, 41–44). Wir sollen nicht nur einen Tag pro Woche für Gott reservieren, sondern Ihm jede Sekunde zu Füssen legen (vgl. Lk 2, 36–38). Kurz:

«Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand.» 38 Dieses ist das grosse und erste Gebot. 39 Das Zweite aber, ihm Gleiche, ist: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.» 40 An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten. Mt 22, 37–40

Dem Herrn Jesus muss alles von uns gehören, jede Faser unseres Körpers, jeder Gedanke, jede Empfindung, alle Zeit, alles Geld, alle Energie – einfach alles. 20 Denn ihr seid um einen Preis erkauft worden; verherrlicht nun Gott in eurem Leib 1. Kor 6, 20. Er darf nicht nur der Mittelpunkt unseres Lebens sein, sondern Er muss überhaupt unser Leben sein (Phil 1, 21). Die Liebe zu Ihm muss alles in unserem Leben prägen. Doch die Liebe folgt nicht irgendwelchen Regeln, denn sie sucht nicht das Ihre 1. Kor 13, 5, sondern das, was das Herz des Geliebten erfreut. Eine Liebe, die auf das Beachten von Geboten und Verboten beschränkt ist, ist eine überaus traurige Sache und des Begriffs «Liebe» nicht wert. Die Liebe muss überströmend, die Gerechtigkeit nach dem Buchstaben weit überflügelnd sein, um ihren Namen zu verdienen. Wenn also beispielsweise jemand danach fragt, ob er als Christ den Sabbat halten soll, können wir nur die Gegenfrage stellen, weshalb er dem Herrn bloss einen Tag pro Woche reservieren wolle – und dann noch ausgerechnet jenen, an dem Er im Grab liegen musste. Und wenn beispielsweise jemand fragt, ob er dem Herrn den Zehnten vom Brutto- oder vom Nettolohn geben soll, können wir nur die Gegenfrage stellen, weshalb er möglichst viel für sich behalten und dem Herrn nicht alles geben wolle. Ich hoffe, dass mit diesen einfachen Beispielen deutlich wird, wie viel mehr die Gnade und die Liebe des Herrn Jesus von uns fordern, als das Gesetz je von uns fordern könnte.

Um nun alles auf ein Wort zu bringen: Ein Christ verhält sich gegenüber dem Gesetz schriftgemäss, wenn er beim Gedanken zurückschreckt, dem Herrn nur das zu bringen, was das Gesetz fordert.