Jesus Christus ist der Herr! Phil 2, 11

Der Traum des Königs und die Visionen des Propheten

Die Unterscheidung zwischen den hebräischen und den chaldäischen Teilen des Buches DanielFussnote erlaubt eine natürliche Unterteilung des Buches, deren Relevanz sich bei einer sorgfältigen Betrachtung des Ganzen zeigt. Im Zusammenhang mit den hier interessierenden Fragen ist es allerdings nützlicher, eine Unterteilung zwischen den ersten sechs und den übrigen Kapiteln vorzunehmen, wobei der erste Teil eher historischer und didaktischer Natur ist, während der zweite die vier grossen Visionen enthält, die dem Propheten am Ende seines Lebens gewährt wurden. Hier interessieren uns vor allem diese Visionen. Die Betrachtung der Erzählungen in den Kapiteln 3–6 würde den Rahmen dieses Buches sprengen, da diese keinen direkten Bezug zu den Visionen haben. Das zweite Kapitel ist dagegen von grosser Bedeutung, da es die Grundlage für die späteren Visionen legtFussnote.

In einem Traum sah der König Nebudkadnezar ein grosses Standbild mit einem Haupt aus Gold, einer Brust und Armen aus Silber, einem Bauch und Lenden aus Kupfer, Schenkeln aus Eisen und Füssen teils aus Eisen und teils aus Ton. Dann riss sich ein Stein ohne menschliche Vermittlung los, traf das Bild an seinen Füssen und zermalmte diese. Da fiel das Bild in sich zusammen und es wurde zu Staub zermalmt. Der Stein wurde zu einem grossen Berg und füllte die ganze ErdeFussnote. Die Deutung des Traumes ist die folgende:

Du, o König, du König der Könige, dem der Gott des Himmels das Königtum, die Macht und die Gewalt und die Ehre gegeben hat; und überall, wo Menschenkinder, Tiere des Feldes und Vögel des Himmels wohnen, hat er sie in deine Hand gegeben und dich zum Herrscher über sie alle gesetzt – du bist das Haupt aus Gold. Und nach dir wird ein anderes Königreich aufstehen, geringer als du; und ein anderes, drittes Königreich, aus Kupfer, das über die ganze Erde herrschen wird. Und ein viertes Königreich wird stark sein wie Eisen; ebenso wie das Eisen alles zermalmt und zerschlägt, so wird es, wie das Eisen, das zertrümmert, alle diese zermalmen und zertrümmern. Und dass du die Füsse und die Zehen teils aus Töpferton und teils aus Eisen gesehen hast – es wird ein geteiltes Königreich sein; aber von der Festigkeit des Eisens wird in ihm sein, weil du das Eisen mit lehmigem Ton vermischt gesehen hast. Und die Zehen der Füsse, teils aus Eisen und teils aus Ton: Zum Teil wird das Königreich stark sein, und ein Teil wird zerbrechlich sein. Dass du das Eisen mit lehmigem Ton vermischt gesehen hast – sie werden sich mit den Nachkommen der Menschen vermischen, aber sie werden nicht aneinander haften: so wie sich Eisen nicht mit Ton vermischt. Und in den Tagen dieser Könige wird der Gott des Himmels ein Königreich aufrichten, das in Ewigkeit nicht zerstört und dessen Herrschaft keinem anderen Volk überlassen werden wird; es wird alle jene Königreiche zermalmen und vernichten, selbst aber in Ewigkeit bestehen: Weil du gesehen hast, dass sich von dem Berg ein Stein losriss ohne Hände und das Eisen, das Kupfer, den Ton, das Silber und das Gold zermalmte. Der grosse Gott hat dem König kundgetan, was nach diesem geschehen wird; und der Traum ist gewiss und seine Deutung zuverlässig. Dan 2, 37–45

Dem Stamm Juda war eine Vorherrschaft prophezeit gewesen, die jene einer blossen Vorrangstellung unter den zwölf Stämmen Israels bei weitem übersteigen sollte. Dem Sohn Davids sollte nämlich ein imperiales Szepter anvertraut werden: So will auch ich ihn zum Erstgeborenen machen, zum Höchsten der Könige der Erde Ps 89, 28; und alle Könige werden vor ihm niederfallen, alle Nationen ihm dienen Ps 72, 11. Das waren die Verheissungen, die Salomo erbte. Die kurze Herrlichkeit seiner Königsherrschaft zeigt, wie vollumfänglich diese hätten erfüllt werden können (2. Chron 9, 22–28), wenn er sich nicht der Dummheit hingegeben und die herrlichsten Aussichten, die jemals einem sterblichen Menschen vorgestellt worden waren, für vorübergehende fleischliche Gelüste eingetauscht hätte. Nebukadnezars Traum vom grossen Standbild und Daniels Vision als Interpretation jenes Traums waren eine göttliche Offenbarung, wonach das verworfene Szepter des Hauses Davids in die Hände der Nationen übergegangen war, in denen es sich bis zu jenem Tag befinden würde, an dem der Gott des Himmels ein Königreich aufrichten (wird), das in Ewigkeit nicht zerstört und dessen Herrschaft keinem anderen Volk überlassen werden wird Dan 2, 44.

An dieser Stelle ist es nicht nötig, den ersten Teil der Prophezeiung im Detail zu diskutieren. Ohnehin besteht eine weitgehende Übereinstimmung bezüglich des generellen Charakters und Bereichs dieser Prophezeiung. Zumindest ist unumstritten, dass die darin beschriebenen Reiche Babylon, Persien, Griechenland und Rom sind. Dass das erste Reich Nebukadnezars Königreich ist, wird ausdrücklich festgehalten (Dan 2, 37. 38); eine spätere Vision nennt explizit das medo-persische Reich und das Reich Alexanders des Grossen als eigenständige «Königreiche» innerhalb des Bereichs der Prophezeiung (Dan 8, 20. 21). Das vierte Reich muss deshalb notwendigerweise Rom sein. Hier genügt es aber, die Tatsache zu betonen, dass sowohl Daniel im Exil als auch Jeremia inmitten der Trübsal Jerusalems in klaren Worten offenbart wurde, dass die Herrschaft über die Erde, die von Juda verworfen worden war, definitiv den Nationen übergeben worden warFussnote. Die einzigen Fragen, die sich stellen, sind: Erstens, was die Art der finalen Katastrophe sein wird, die durch den Fall und die Zerstörung des Bildes symbolisiert wird, und zweitens, wann sich dieser Teil der Prophezeiung erfüllen wird. Die Formulierung der Prophezeiung ist so klar, dass ihre Auslegung keine sprachlichen Schwierigkeiten bereiten kann. Nur eine allfällige Voreingenommenheit des Auslegers könnte diesem Schwierigkeiten bei der Interpretation bereiten. Kein Christ bezweifelt, dass der Stein, der sich ohne eine menschliche Vermittlung losreisst, ein typisches Bild entweder für Christus selbst oder für Sein Königreich ist. Ebenso klar ist, dass die Katastrophe eintreten wird, wenn das vierte Reich schon geteilt und teils stark und teils zerbrechlich sein wird. Die Erfüllung kann also nicht mit dem ersten Kommen Christi in Zusammenhang gebracht werden. Genauso eindeutig steht fest, dass es sich um ein plötzliches Ereignis handeln muss, auf das die Aufrichtung eines Königreichs folgen soll, welches in Ewigkeit bestehen wird. Folglich muss es sich um ein Ereignis handeln, das auch jetzt noch in der Zukunft liegen. Um das zu erkennen, muss man sich nicht mit verschiedenen Theorien beschäftigen; es genügt, die klaren Worte auszulegen. Ganz offensichtlich geht es in der Prophezeiung nicht um die Entstehung und Verbreitung eines «geistlichen Königreichs» mitten unter irdischen Konigreichen, sondern um die Aufrichtung eines Königreichs, das alle jene Königreiche zermalmen und vernichten wirdFussnote.

Die Auslegung des königlichen Traums erhob den Gefangenen im Exil unmittelbar zum Obervorsteher in Babylon (Dan 2, 48). Er nahm damit eine Stellung des Vertrauens und der Ehre ein, die er wahrscheinlich inne hatte, bis er entweder aus dem Amt entlassen wurde oder sich aus diesem zurückzog, was unter der Herrschaft des einen oder des andern der zwei auf Nebukadnezar folgenden Könige geschehen sein dürfte. Die Szene von Belsazzars Feier legt den Schluss nahe, dass sich Daniel damals schon lange im Ruhestand befunden hatte, denn der junge König wusste offenbar nichts von seinem RuhmFussnote. Unter den älteren Männern war Daniels Ruhm dagegen noch so gross, dass er ungeachtet seines fortgeschrittenen Alters von Darius nochmals ins höchste Amt eingesetzt wurde, als dieser medische König zum Herrscher der Stadt mit den dicken Mauern wurdeFussnote.

Sowohl in Zeiten des Wohlstandes als auch in Zeiten des Ruhestandes war Daniel dem Gott seiner Väter treu. Die Jahre seiner Kindheit in Jerusalem mochten in politischer Hinsicht dunkel und unruhig gewesen sein, aber sie waren auch eine Epoche der hellsten geistlichen Erweckung gewesen, mit der seine Nation je gesegnet worden war, und so hatte Daniel mit sich einen Glauben und eine Frömmigkeit an den Hof Nebukadnezars gebracht, die allen schlechten Einflüssen, die an einem solchen Ort im Überfluss vorhanden sind, trotztenFussnote.

Der Daniel des zweiten Kapitels war ein junger Mann, der gerade eine Karriere von aussergewöhnlicher Würde und Macht angetreten hatte, wie sie nur wenige durchlaufen haben. Der Daniel des siebten Kapitels war dagegen ein älterer Heiliger, der die mit einer solchen Karriere verbundene Glaubensprüfung unbeschadet überstanden hatte und nach wie vor über ein Herz verfügte, das seinem Gott und seinem Volk noch genauso treu ergeben war wie rund sechzig Jahre davor, als er als Gefangener und einsamer Fremdling erstmals das Tor der Stadt mit den dicken Mauern durchschritten hatte. Zur Zeit der letzten Vision lag Jerusalem bereits seit mehr als vierzig Jahren in Trümmern und der letzte König aus dem Hause Davids hatte die Messingtore von Babylon in Ketten durchschritten.

Auch bezüglich der Prophezeiung im siebten Kapitel scheinen die Umrisse der Prophezeiung deutlich zu sein. So, wie die vier Reiche, die nacheinander die Vorherrschaft während der Zeiten der Nationen haben sollten, in Nebukadnezars Traum durch die vier Teile des grossen Standbildes dargestellt worden waren, werden sie hier durch vier wilde Tiere vorgeschattetFussnote. Die zehn Zehen des Bildes im zweiten Kapitel finden ihre Entsprechung in den zehn Hörnern des vierten Tiers im siebten Kapitel. Die spätere Vision beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Charakter und dem Schicksal des vierten Reiches, aber aus beiden Prophezeiungen geht deutlich hervor, dass dieses Reich in seiner letzten Phase ein auffälliges und plötzliches Ende finden wird, und zwar durch eine irdische Manifestation von göttlicher Macht.

Die Details der Vision, so interessant und wichtig sie auch sein mögen, müssen hier übergangen werden, denn die Auslegung dieser Details wird uns in so einfachen und so unmissverständlichen Worten gegeben, dass es keinen Raum für Zweifel geben kann, sofern man unvoreingenommen ist: Diese grossen Tiere, es sind vier: Vier Könige (bzw. Königreiche; vgl. Dan 7, 23) werden von der Erde aufstehen. Aber die Heiligen der höchsten Örter werden das Reich empfangen und werden das Reich besitzen bis in Ewigkeit, ja, bis in die Ewigkeit der Ewigkeiten Dan 7, 17. 18.

Der Prophet fährt dann fort, die Vision nochmals wiederzugeben, und seine Worte enthalten eine explizite Antwort auf die einzige Frage, die bezüglich der soeben zitierten Auslegung noch gestellt werden könnte, nämlich ob das Reich der Heiligen der höchsten Örter sofort auf den Fall des vierten Reiches der Nationen folgen wirdFussnote. Er fügt nämlich an:

Darauf begehrte ich Gewissheit über das vierte Tier, das von allen anderen verschieden war – sehr schrecklich, dessen Zähne aus Eisen und dessen Klauen aus Erz waren, das frass, zermalmte und das Übriggebliebene mit seinen Füssen zertrat und über die zehn Hörner auf seinem Kopf und über das andere Horn, das emporstieg und vor dem drei abfielen; und das Horn hatte Augen und einen Mund, der grosse Dinge redete, und sein Aussehen war grösser als das seiner Genossen. Ich sah, wie dieses Horn Krieg gegen die Heiligen führte und sie besiegte, bis der Alte an Tagen kam und das Gericht den Heiligen der höchsten Örter gegeben wurde und die Zeit kam, dass die Heiligen das Reich in Besitz nahmen. Er sprach so: Das vierte Tier: Ein viertes Königreich wird auf der Erde sein, das von allen Königreichen verschieden sein wird; und es wird die ganze Erde verzehren und sie zertreten und sie zermalmen. Und die zehn Hörner: Aus jenem Königreich werden zehn Könige aufstehen; und ein anderer wird nach ihnen aufstehen, und dieser wird verschieden sein von den vorigen und wird drei Könige erniedrigen. Und er wird Worte reden gegen den Höchsten und die Heiligen der höchsten Örter vernichten; und er wird darauf sinnen, Zeiten und Gesetz zu ändern, und sie werden eine Zeit und Zeiten und eine halbe Zeit in seine Hand gegeben werden. Aber das Gericht wird sich setzen; und man wird seine Herrschaft wegnehmen, um sie zu vernichten und zu zerstören bis zum Ende. Und das Reich und die Herrschaft und die Grösse der Königreiche unter dem ganzen Himmel wird dem Volk der Heiligen der höchsten Örter gegeben werden. Sein Reich ist ein ewiges Reich, und alle Herrschaften werden ihm dienen und gehorchen.Fussnote Dan 7, 19–27

Man könnte darüber diskutieren, ob es in der Geschichte ein Ereignis gegeben hat, das innerhalb des Bereichs dieser Prophezeiung liegt, aber es steht jedenfalls eindeutig fest, dass sich die Prophezeiung insgesamt noch nicht erfüllt hatFussnote. Der römische Erdkreis wird eines Tages in zehn unabhängige Königreiche zergliedert sein, und aus einem dieser zehn Königreiche wird jener schreckliche Feind Gottes und Seines Volkes aufstehen, dessen Vernichtung zu den Ereignissen beim zweiten Kommen Christi gehören wird.