Jesus Christus ist der Herr! Phil 2, 11

Die Erfüllung der Prophezeiung

Das Verborgene ist des Herrn, unseres Gottes; aber das Offenbarte ist unser und unserer Kinder 5. Mose 29, 28. Unter dem Offenbarten nimmt die erfüllte Prophezeiung den vornehmsten Platz ein. Ihre Bedeutung ist für jedermann erkennbar, wenn man sie in Beziehung zu jenen Ereignissen setzt, in denen sie sich erfüllt hat. Beispielsweise sind die Bezüge zwischen den Ereignissen der Passion und Ps 22 unbestreitbar. Die Worte des Psalmisten sind von tiefster geistlicher Bedeutung, weil auch die Ereignisse, in denen sie sich erfüllt haben, ihrer Natur nach von tiefster geistlicher Bedeutung sind. Und trotzdem ist das Zeugnis, das in dieser Prophezeiung enthalten ist, jedermann zugänglich, weil es sich an alle richtet und weil jeder es nachlesen kann. Nun könnte man fragen, ob es denn wirklich möglich sei, dass die wahre Interpretation der Prophezeiung von den siebzig Wochen so viele Untersuchungen und Argumente benötigt? Müsste das alles nicht viel einfacher sein?

Ein solcher Einwand ist völlig legitim; aber die Antwort darauf erfordert eine Unterscheidung zwischen den Schwierigkeiten, die in der Prophezeiung selbst zu finden sind, und jenen, die ihren Grund nur in der Kontroverse finden, die darüber entstanden ist. Das Buch Daniel ist wesentlich häufiger feindselig kritisiert worden als jeder andere Teil der Heiligen Schrift, und gerade die letzten Verse des neunten Kapitels haben schon immer das Hauptziel der Angriffe gebildet. Das muss so sein, denn wenn bewiesen werden kann, dass diese Passage eine Prophetie ist, belegt das den Charakter des ganzen Buches als eine göttliche Offenbarung. Daniels Visionen beschreiben zugegebenermassen historische Ereignisse zwischen den Tagen von Nebukadnezar und Antiochus Epiphanes, weshalb Skeptiker annehmen, dass der Schreiber zu Zeiten der Makkabäer gelebt habe. Aber diese Annahme, die ohne jeden Hauch auch nur eines Vorwandes für einen Beweis geäussert wird, kann komplett widerlegt werden, wenn bewiesen werden kann, dass sich ein Teil der Prophezeiung erst zu einem späteren Zeitpunkt erfüllt hat. Folglich ist es von entscheidender Bedeutung für den Skeptiker, die Vorhersage von den siebzig Wochen zu diskreditieren.

Die Prophezeiung hat keinen Schaden von den Angriffen ihrer Widersacher davongetragen, aber viel Schaden gelitten durch die Hand jener, die sie verteidigen wollten. Kein ausgeklügeltes Argument wäre notwendig, um ihre Bedeutung zu erhellen, gäbe es nicht die Schwierigkeiten, die von christlichen Auslegern geschaffen wurden. Wenn alles, was christliche Autoren darüber geschrieben haben, weggewischt und vergessen werden könnte, würde die Erfüllung der Vision, soweit sie sich tatsächlich schon erfüllt hat, klar auf den offenen Seiten der Geschichtsbücher zu erkennen sein. Aus Respekt vor diesen Autoren und in der Hoffnung, dadurch Vorurteile beseitigen zu können, die das rechte Verständnis dieses Themas verunmöglichen würden, sind diese Schwierigkeiten hier diskutiert worden. Nun bleibt aber nichts anderes übrig, als die Schlussfolgerungen der letzten Seiten zu rekapitulieren.

Das Szepter der irdischen Macht, das dem Haus Davids anvertraut worden war, wurde an die Nationen übergeben, zuerst in der Person von Nebukadnezar, aber letztlich bis zur Erfüllung der Zeiten der Nationen. Die verheissenen Segnungen für Juda und Jerusalem wurden auf eine Zeit aufgeschoben, die nach einer Periode von siebzig Wochen anbrechen sollte; am Ende der 69. Woche dieser Ära sollte der Messias weggetan werden. Diese siebzig Wochen repräsentieren sieben mal siebzig prophetische Jahre von je 360 Tagen, gezählt ab dem Erlass eines Ediktes zum Wiederaufbau der Stadt – der Strassen und Gräben von Jerusalem. Das fragliche Edikt war der Erlass von Artaxerxes Longimanus im zwanzigsten Jahr seiner Herrschaft, mit dem er Nehemia bevollmächtigte, die Befestigungen Jerusalems wieder aufzubauen. Das Datum von Artaxerxes Herrschaft ist definitiv gesichert – und zwar nicht durch ausgeklügelte Abhandlungen von biblischen Kommentatoren oder prophetischen Schreibern, sondern durch die einhellige Meinung von säkularen Historikern und Chronologen. Die Aussage von Lukas, dass der öffentliche Dienst unserers Herrn im fünfzehnten Jahr von Tiberius Cäsar begonnen habe, ist explizit und eindeutig. Ebenso klar ist, dass er kurz vor dem Passah begann. Das Datum kann auf die Zeit zwischen August 28 n. Chr. und April 29 n. Chr. fixiert werden. Das Passah bei der Kreuzigung fand folglich im Jahr 32 n. Chr. statt, als Christus in der Nacht des Passah-Abendmahls verraten und am Tag des Passahfestes getötet wurde.

Wenn diese vorhergehenden Schlussfolgerungen gut fundiert sind, muss die Zeit zwischen dem Edikt von Artaxerxes und der Passion 483 prophetische Jahre gedauert haben. Und absolute Präzision, soweit es die Natur der Sache zulässt, ist nichts mehr als das, was Menschen zu verlangen berechtigt sind. Es kann keine ungefähre Berechnung in einer göttlichen Chronologie geben; und wenn es Gott gefallen hat, die Erfüllung Seines Vorsatzes in menschlichen Kalendern prophetisch vorherzusagen, darf nicht einmal die sorgfältigste Prüfung eine falsche Berechnung oder einen Fehler zu Tage führen.

Das persische Edikt, mit dem die Autonomie von Juda wieder hergestellt wurde, erging im jüdischen Monat Nisan. Es könnte zwar tatsächlich am 1. Nisan ergangen sein, aber da kein anderer Tag genannt wird, muss die prophetische Periode ohnehin – gemäss der üblichen jüdischen Praxis – vom jüdischen Neujahrsttag an gezählt werdenFussnote. Die siebzig Wochen müssen folglich vom 1. Nisan 445 v. Chr. gezählt werdenFussnote.

Die wesentlichen Charakteristika des priesterlichen jüdischen Jahres sind seit jener denkwürdigen Nacht unverändert geblieben, als der equinokturale Mond auf die Hütten der Israeliten in Ägypten geschienen hat, die vom Passahopfer blutverschmiert waren. Deshalb bereitet es keine Schwierigkeit, innerhalb gewisser Schranken das julianische Datum des 1. Nisan in irgendeinem Jahr zweifelsfrei zu ermitteln. Im Jahr 445 v. Chr. fiel der Passahneumond auf den 13. März, 7.09 UhrFussnote. Der 1. Nisan kann also auf den 14. März datiert werden.

Die Sprache der Prophezeiung ist klar: Vom Ausgehen des Wortes, Jerusalem wiederherzustellen und zu bauen, bis auf den Messias, den Fürsten, sind 7 Wochen und 62 Wochen. Eine Ära von 69 «Wochen» oder 483 prophetischen Jahren gezählt ab dem 14. März 445 v. Chr. muss also mit einem Ereignis geendet haben, das mit den Worten bis auf den Messias, den Fürsten übereinstimmt. Das Datum der Geburt kann wohl kaum der Abschluss dieser Periode gewesen sein, denn dann hätten die 69 Wochen 33 Jahre vor dem Tod des Messias geendet.

Wenn der Beginn Seines öffentlichen Dienstes herangezogen wird, stellen sich andere Schwierigkeiten. Als der Herr zu predigen begann, stellte Er das Königreich nicht als eine Tatsache vor, die sich mit Seinem Kommen erfüllt hätte, sondern als eine Hoffnung, deren Realisierung zwar unmittelbar bevorstand, aber noch nicht erfüllt war. Er griff das Zeugnis von Johannes dem Täufer auf: Das Königreich der Himmel ist nahe gekommen. Dessen Dienst war eine Vorbereitung für die Errichtung des Königreichs gewesen, ein Hinführen zu jener Zeit, wenn Er sich in Erfüllung der prophetischen Schriften öffentlich als der Sohn Davids vorstellen würde, als der König von Israel, die Huldigung der Nation einfordernd. Es war die Schuld der Nation, dass das Kreuz und nicht der Thron den Höhepunkt Seines Lebens auf Erden dargestellt hat.

Kein Student der Evangelien wird übersehen, dass des Herrn letzter Besuch in Jerusalem nicht nur tatsächlich, sondern auch von seinem Zweck her die Zuspitzung Seines Dienstes war, der Höhepunkt, auf das dieser abzielte. Nachdem die ersten Anzeichen sichtbar geworden waren, dass die Nation Seine messianischen Ansprüche zurückweisen würde, hatte Er alle öffentliche Anerkennung derselben vermieden. Aber jetzt gab das doppelte Zeugnis Seiner Worte und Seiner Werke vollständig wieder, dass Sein Einzug in die Heilige Stadt die Proklamation Seiner Person als Messias und den Empfang Seines Schicksals bezweckte. Immer und immer wieder waren die Apostel beauftragt worden, dass sie Ihn nicht bekannt machen sollten. Aber nun akzeptierte Er den Beifall der ganzen Menge Seiner Jünger, und Er brachte den Widerspruch der Pharisäer mit dem unwilligen Tadel zum Schweigen: Ich sage euch, wenn diese schweigen, so werden die Steine schreien Lk 19, 39. 40.

Die volle Bedeutung der folgenden Worte im Lukasevangelium wird durch einen kurzen Einschub im Text verschleiert. Als die Rufe Seiner Jünger erschallten: Hosanna dem Sohn Davids! Gesegnet sei der König Israels, der im Namen des Herrn kommt!, schaute Er zur Heiligen Stadt und Er rief aus: Wenn auch du erkannt hättest, was an diesem Tag zu deinem Frieden gedient hätte; aber es ist verborgen vor deinen Augen!Fussnote Die Zeit von Jerusalems Heimsuchung war gekommen, aber die Stadt erkannte es nicht. Lange davor hatte die Nation Ihn verworfen, aber das war der vorhergesehene Tag, um die Wahl unwiderruflich zu treffen – der Tag, der so deutlich in der Schrift gekennzeichnet ist als die Erfüllung von Sacharias Prophezeiung: Frohlocke laut, Tochter Zion; jauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König wird zu dir kommen Sach 9, 9. Von all den Tagen des Dienstes Christi auf Erden gibt es keinen anderen, der so gut zu den Worten des Engels passen würde: bis auf den Messias, den Fürsten.

Und das Datum dieses Tages kann bestimmt werden. In Übereinstimmung mit dem jüdischen Brauch ging der Herr am 8. Nisan nach Jerusalem, sechs Tage vor dem PassahFussnote. Doch weil der 14. Nisan, an dem das Passah-Abendmahl gegessen wurde, in jenem Jahr auf einen Donnerstag fiel, war der 8. Nisan der vorhergehende Freitag. Der Herr Jesus muss den Sabbat folglich in Bethanien verbracht und das Abendmahl am Abend des 9. Nisan, nach dem Ende des Sabbats, im Haus von Martha eingenommen haben. Am folgenden Tag, am 10. Nisan, betrat Er Jerusalem so, wie es in den Evangelien wiedergegeben wirdFussnote.

Das julianische Datum des 10. Nisan ist Sonntag, der 6. April 32 n. Chr. Wie lange dauerte nun die Periode zwischen dem Ausgehen des Erlasses, Jerusalem wieder aufzubauen und dem öffentlichen Kommen des Messias, des Fürsten – zwischen dem 14. März 445 v. Chr. und dem 6. April 32 n. Chr.? Das Intervall enthielt exakt und auf den Tag genau 173 880 Tage oder sieben Mal 69 prophetische Jahre von je 360 Tagen, die ersten 69 Wochen von Gabriels ProphezeiungFussnote.

Es gibt vieles in der Heiligen Schrift, das der Unglaube schätzen und ehren mag, obwohl er sich weigert, es als göttlich zu akzeptieren, aber Prophetie lässt keinen halbherzigen Glauben zu. Die Vorhersage der siebzig Wochen war entweder ein krasser und gotteslästerlicher Schwindel oder sie war im vollsten und engsten Sinn gottgehauchtFussnote. Möglicherweise werden die Juden in kommenden Tagen, wenn Juda heimgebracht und Jerusalem wieder hergestellt und ihren rechtmässigen Besitzern übergeben werden soll, aus den Tiefen der Ruinen jene Niederschriften ausgraben, die den grossen königlichen Erlass und die Verwerfung des Nazoräers belegen werden, und sie, für die diese Prophezeiung gegeben worden war, werden dann mit den Beweisen ihrer Erfüllung konfrontiert sein. Doch welches Urteil soll zwischenzeitlich von fairen und nachdenklichen Menschen gesprochen werden? Zu glauben, dass die hier vorgestellten Tatsachen nichts mehr als ein glücklicher Zufall seien, benötigt mehr Glaubensenergie als jene eines Christen, der das Buch Daniel als göttlich annimmt. Es gibt einen Punkt, ab dem Unglaube unmöglich ist, wo der Verstand, der die Wahrheit ablehnt, Zuflucht zum Aberglauben nehmen muss.